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Unsere Flucht aus Ostpreußen ins Wendland
Mein Großvater wurde kurz vor unserer Flucht aus Ostpreußen noch zum
Volkssturm gezogen. Er musste mit einem LKW, den ein französischer
Kriegsgefangener steuerte, für die Kreisleitung in dem Ort O. Akten
befördern. Kurz vor dem Erscheinen der russischen Armee holte er meine
Großmutter, Urgroßmutter, meine Mutter und mich (9Jahre alt) mit dem Laster
(mit Holzvergaser) ohne Erlaubnis zu Hause ab, um in den Westen zu fliehen.
Mein Vater war 1943 in Russland gefallen.
Nach abenteuerlichen drei Wochen mit Aufenthalt in Berlin gelangten wir ins
Wendland.
Wir schreiben den 7. Februar 1945.
Weiter geht die Fahrt in Richtung Elbe.
Von Grabow eine nicht allzu weite Distanz. Der Verkehr ist hier noch sehr
gering, und zu unserem Erstaunen scheint der Frühling mit milden
Temperaturen Einzug zu halten. Kurz vorher wir noch unter Temperaturen bis
zu minus 25 Grad Celsius.
Das durch seine Endmoränen hügelige Land geht in eine Landschaft, flach wie
ein Teller, über.
´Da ging es gerade links ab nach Dömitz´,
bemerkt meine Mutter, und ehe wir uns versehen, befinden wir uns auf der
Auffahrt zur Elbbrücke, die an dieser Stelle den Strom überquert. Ein
Umkehren ist nun sofort nicht mehr möglich.
´Dann fahren wir eben noch etwas weiter´,
entgegnet Opa.
Links von uns können wir den Kirchturm und die alte Festung von Dömitz
erblicken, als wir uns auch schon auf der mit Blaubasalt gepflasterten
Elbbrücke befinden. Auf derselben Straßenseite, einige 100 Meter entfernt,
entdecken wir links die Eisenbahnbrücke mit ihren vielen Bögen, die das
ganze Urstromtal der Elbe überspannen.
Diese beiden Brücken besitzen die einzigen Möglichkeiten weit und breit, die
Elbe zu überqueren.
Das Übersehen des Hinweisschildes nach Dömitz, so sollte es sich einige
Jahre später erweisen, wird für uns weit reichende Folgen haben, denn hier
wird nämlich der eiserne Vorhang entlanglaufen, der dann Deutschland später
für lange Zeit teilen wird.
Die Straßenbrücke zieht sich erstaunlich lang über den großen Strom. Ab und
zu erblicken wir noch Schneereste, und die ersten roten Niedersachsenhäuser
lugen aus den sie umgebenden Eichbäumen hervor.
Nach mehreren Kilometern sehen wir ein Ortsschild mit dem Namen Seybruch.
Ein paar Häuser, und schon ist der Ort hinter uns geblieben. Hier kann man
nicht bleiben. Weiter durch einen Wald die Allee entlang. Danach Felder und
im Hintergrund eine Kirche und ein Turm mit abgeflachtem Dach.
´Dort kommt ein größerer Ort, dort bleiben wir´,
entscheidet Opa. Ein gelbes Ortsschild sagt uns, dass wir in dem Ort
Dannenberg angekommen sind. Die ersten Häuser in rotem Backstein ziehen an
uns vorbei, ein weiteres weißes Schild mit dem Hinweis
´Ostbahnhof ´
läßt einen größeren Ort vermuten. Denn wo ein Ostbahnhof vorhanden ist,
müßte es eigentlich noch mindestens einen weiteren Bahnhof geben. Die Straße
wird enger, viele Fachwerkhäuser in verschiedenen Farben, eine Brücke, die
einen Fluß überquert, und schon stehen wir auf dem Marktplatz.
Die Ansprechstelle für uns als Flüchtlinge, ist schnell gefunden. Man ist
schon auf die Fluchtwelle aus dem Osten eingestellt, obwohl wir zu den
ersten gehören, die in diesem Ort erscheinen. Alle ankommenden Flüchtlinge
sollen, so erfahren wir, vorläufig in der Schule unterkommen, die für diesen
Zweck geschlossen wurde. Es stellt sich heraus, dass der Ort gar nicht so
groß ist, wie gedacht. Einige tausend Einwohner, mehr nicht. Wir sind etwas
enttäuscht, wollen wir zwar in einer ländlichen Gegend, aber nicht auf dem
Land wohnen.
Die Schule liegt ungefähr hundert Meter vom Marktplatz entfernt. Dahinter
der Fluß, der sich Jeetzel nennt. Na ja, wenn schon kein See in der Nähe
ist, dann doch wenigstens ein Fluß.
Die Unterkünfte liegen im ersten Stockwerk der Schule. Es sind Klassenräume
mit Betten in zwei Etagen. Wir erfahren, dass zwei andere Familien ebenfalls
schon hier eingezogen sind. Es sind dieses eine Großfamilie H mit vielen
Kindern und Großeltern aus Westpreußen und die Familie F mit Oma und Tochter
R aus B in Westpreußen. Nun hat man viel Zeit, über die Erlebnisse zu reden,
und zwischen meinem Opa und Herrn F entwickelt sich bald ein intensiver
Meinungsaustausch, besonders über Politik und Spekulationen über den
weiteren Verlauf des Krieges. Herr F ist von Beruf Mühlenbauer und hat in B
eine Tankstelle besessen.
Man teilt uns mit, dass wir uns bei der NSV am Markt mit Essen versorgen
könnten. Es gibt dort auch Geschirr und Essensbesteck. Da der Ort nicht sehr
groß ist, haben wir uns bald ein Wissen über die Ortsverhältnisse
geschaffen.
Dannenberg ist bei genauem Hinsehen eine Stadt, die im Wesentlichen aus
einer Straße besteht, der ´Langen Straße´. Das hat bestimmte Gründe, wie wir
später auch noch am eigenen Leibe erleben müssen. Daneben gibt es noch ein
paar sehr kurze Gässchen, die allesamt schnell auf die Dannenberg umgebenden
Wiesen führen.
Der Ort liegt nämlich sehr niedrig mehrere Kilometer hinter den Elbdeichen.
Bei Hochwasser des Nebenflusses, nämlich der Jeetzel, ist die ganze
Ortschaft schnell überflutet, insbesondere die Gegend links und rechts der
Straße, die durch ihre Lage schnell vom Wasser erfaßt wird. Das Hinterland
der Umgebung, das nicht durch Deiche geschützt ist, steht bei Hochwasser,
meist im Frühling, in den Häusern oft bis zu den Decken in Parterre, unter
Wasser. An Markierungen, die an Häuserwänden angebracht sind, können wir
Wasserstände ablesen, die bis in das 17. Jahrhundert zurückreichen. Um die
höchsten Pegel zu bestaunen, müssen wir sogar den Kopf anheben. Das ist für
uns ganz etwas Neues und wird mit gemischten Gefühlen aufgenommen.
Dannenberg ist in der Ebene schon von weitem mit seinem Kirchturm zu
erkennen. Da gibt es noch den Waldemarturm, auf den die Dannenberger sehr
stolz sind. Er liegt auf der anderen Straßenseite der Kirche auf einem
Hügel, der über eine Straße zu erreichen ist. Vor vielen hundert Jahren soll
dort ein König Waldemar gefangen gehalten worden sein.
Wegen seiner einen bedeutenden Straße ist der Ort relativ lang und hat
tatsächlich zwei Bahnhöfe, nämlich den Ost-und Westbahnhof.
Dennoch wundern wir uns, dass Dannenberg eine Kreisstadt ist, denn 18 km
entfernt liegt der Ort Lüchow, der auf uns einen größeren Eindruck macht,
als wir einmal mit dem Lkw dort hinfahren. Wie Dannenberg anscheinend
Kreisstadt wurde, erzählt uns eine Einheimische:
Eine Kommission der Regierung sollte entscheiden, welche von beiden Städten
zur Kreisstadt erklärt würde. Bei der Besichtigung vor Ort hatten sich die
Dannenberger etwas ausgedacht. Sie ließen die zu der Zeit nur wenigen Autos
in Dannenberg auf der Straße ständig hin und her fahren. Dieser Autoverkehr
muß die Herren so beeindruckt haben, dass sie sich für Dannenberg
entschieden.
Heute heißt bekanntlich der Kreis Lüchow-Dannenberg und alle sind´s
zufrieden.
Wegen der beiden Elbbrücken liegt Dannenberg zu dieser Zeit auf einer
wichtigen Verbindungslinie zwischen Berlin und Hannover. So kann man auf
beiden Bahnhöfen lange abgestellte Schlangen von Güterwagen beobachten, die
mit irgendwelchen Materialien, wie z. B. Kohle, beladen sind.
Nordwestlich, nicht weit entfernt von dem sieben km entfernten schönen
Hitzacker, liegt die Göhrde, ein ausgedehntes sehr ansehnliches Waldgebiet.
Südlich befindet sich der Gartower Forst, welcher der Göhrde an Größe kaum
nachsteht.
Nach einer Woche werden wir umquartiert. Die jetzt in Scharen mit Trecks neu
dazukommenden Flüchtlinge brauchen Platz. Man hat für uns eine Unterkunft
nicht weit vom Markt gefunden. Sie besteht aus zwei Zimmern im 1. Stockwerk
des Gasthauses Keibel, einige Meter vom Marktplatz entfernt. Die Wirtsleute
sind darüber nicht besonders erfreut, was man ja auch verstehen kann. Eugen
erhält ein Zimmer in einer kleinen Nebenstraße gleich nebenan. Mit Essen
werden wir in der Gastwirtschaft versorgt. Allerdings sind wir von dessen
Qualität nicht sehr begeistert.
Bisher ist der Ort von Kriegsereignissen verschont geblieben. Regelmäßige
Sirenenwarntöne von Fliegeralarmen werden durch die Bevölkerung nicht sehr
ernst genommen. Man weiß, dass die oft zu Hunderten uns in großer Höhe
überfliegenden britischen und amerikanischen Bomber andere Ziele suchen.
Deren Flüge gelten vor allem Berlin oder den Großstädten in Thüringen und
Sachsen. Das Auf - und Abschwellen von tausenden Motoren ist fast zur
Gewohnheit geworden.
Es ist ein sehr schöner Märztag. Ich blicke aus dem Fenster unseres Zimmers
und sehe eine Gruppe von Flugzeugen. Vielleicht einige hundert Meter hoch,
überfliegen sie uns in Gruppen von etwa 6 - 12 Bombern, die bei dieser Nähe
jeden schon durch ihr lautes Dröhnen auf sich aufmerksam machen. Plötzlich
öffnen sich unter ihnen die Bombenschächte und ich sehe Bomben herausfallen,
d.h. ich weiß diesen Vorgang etwas später so zu deuten. Sekunden danach
bricht ein Inferno los, das uns förmlich von den Beinen reißt. Wir werden
kreuz und quer durch den Raum geschleudert. Das Fachwerkhaus schwankt so hin
und her, dass wir jeden Augenblick damit rechnen, direkt getroffen und
verschüttet zu werden. Schreiend versuchen wir nach unten zu gelangen. Dort
angelangt, getraut sich niemand die Haustüre zu öffnen. Nach kurzer Zeit,
für uns jedoch eine Ewigkeit, ist dieser Spuk schon vorbei. Es mag
vielleicht 30 Sekunden gedauert haben.
Als wir die Türe öffnen, dringt Brandgeruch herein und draußen ist alles nur
von Staub umgeben. Eine klare Sicht ist momentan nicht zu erlangen. Ein etwa
gegenüberliegendes Haus ist von der Bildfläche verschwunden. In
unmittelbarer Nähe sind viele Häuser zerstört, und überall sieht man
Menschen, die Tote aus den Trümmern tragen. Dannenberg ist schwer getroffen
worden. Aber warum?
Wahrscheinlich galt der Fliegerangriff der Eisenbahnlinie, die etwa 150
Meter parallel zur Langen Straße verläuft. Die Jeetzelbrücke der Bahn wurde
nicht beschädigt. Es stellt sich heraus, dass 30 Meter von unserem Haus eine
schwere Bombe heruntergekommen ist, die nur deshalb geringe Schäden
angerichtet hat, weil das Gelände um uns herum sumpfartig ist, und die
Fachwerkhäuser durch ihre Elastizität den Luftdruck durch Schwanken
aufgefangen haben.
Da der Bombenangriff für die Alliierten ein strategischer Mißerfolg war, ist
nun zu befürchten, dass eine Wiederholung stattfinden wird.
In dem Durcheinander des Fliegerangriffs ist unser Rehpinscher Prinz
verschwunden. Niemand hat ihn gesehen. Möglicherweise hat ihn ebenfalls eine
Bombe erwischt oder er liegt noch irgendwo unter den Trümmern.
Wir sind darüber sehr traurig, denn er fehlt uns sehr. Nach einigen Tagen
berichten uns zufällig Leute aus Hamburg, dass sie einen kleinen Hund,
ähnlich unserem Prinz, in Streets auf einem Bauernhof, in dessen Nähe sie
wohnten, gesehen hätten. Das muß er sein, meinen wir. Wir sind darüber
überglücklich und wollen direkt aufbrechen, um uns dieses Tier anzusehen.
Vorher schwören uns die Leute darauf ein, nur nicht zu sagen, dass wir durch
sie informiert seien.
Wir brechen sofort auf. Nach einem längeren Fußmarsch haben wir das Dorf
erreicht und betreten den uns genannten Bauernhof. Die Türen sind ja hier
überall offen, und wir gelangen in die Küche.
Und siehe da, unter dem warmen Herd liegt Prinz und kommt uns freudig
begrüßen. Den Bauern ist die Situation ausgesprochen peinlich, andererseits
sind sie gar nicht gerne bereit, uns den Hund zurückzugeben. Auf unsere
Frage, wie sie zu dem Tier gekommen sind, sagen sie, er sei ihnen
zugelaufen. Da der Ort aber relativ weit entfernt liegt, kommt uns das schon
etwas spanisch vor. Wir sind dennoch froh, ihn wiederzuhaben. Gut hat er es
auf jeden Fall gehabt, denn die Leckereien, die er dort erhielt, konnte er
bei uns sicher nicht kriegen.
Bei jedem Fliegeralarm verlassen wir jetzt fluchtartig die Stadt. Bis zum
Eintreffen der Flugzeuge, deren Ziel ja nicht vorher bekannt ist, kommt man
allerdings nicht sehr weit. Einer der Wege ist nach Westen geplant. Als die
Flugzeuge erscheinen, sind wir gerade auf der Straße in Höhe des
Westbahnhofs. Es ist mittlerweile dämmrig geworden und auf den Schienen
erkennt man schemenhaft einen langen Güterzug. Wir werfen uns in den
Straßengraben. Neben uns liegt eine ganze Anzahl von Menschen, die auch
nicht mehr weiter aus der Stadt fliehen konnten. Jemand behauptet, der
Güterzug sei mit Munition voll gestopft. Gar nicht so unwahrscheinlich, denn
bei Dragahn, einige Kilometer weiter, soll ein riesiges Treibstoff - und
Munitionslager unterirdisch vorhanden sein. Beim Brummen der Flugzeuge
schiele ich ängstlich auf den Güterzug und stelle mir vor, was bei einem
Treffer von uns übrig bliebe. Ab dem letzten Bombenangriff brauche ich mich
in solch einer Situation um einen guten Stuhlgang nicht mehr zu fürchten.
Entwarnung. Es ist Gott sei Dank nichts passiert, die Flugzeuge sind über
uns hinweg geflogen.
Wir wollen nun nicht mehr in Dannenberg bleiben. Aber wie soll man in dieser
Zeit eine andere Unterkunft finden?
Die Familien F. und H. haben in dieser Hinsicht ein Glückslos gezogen und
sind auf dem Land untergekommen. F. landeten in Nebenstedt, einem Dorf mit
etwa 25 - 30 Häusern unweit östlich von Dannenberg. Herr F. erzählt meinem
Opa von einer Nachbarin, die in ihrem Haus noch keine Flüchtlinge
aufgenommen hat.
Der Bürgermeister von Nebenstedt, der in der Nähe des wohnt, wird bedrängt,
uns dort eine Unterkunft zu vermitteln. Nach wenigen Tagen ziehen wir in
unsere neue Bleibe. Unsere neue Wohnung besteht aus einem Zimmer mit einer
kleinen Kammer. Das schon etwas ältere Fachwerkhaus ist ganz nach Art der
Landschaft gebaut worden. Es ist nicht so groß, wie die im Ort vielleicht 15
Bauernhäuser.
Nebenstedt ist bisher unversehrt und gibt uns nach dem Bombenangriff ein
Gefühl hoher Sicherheit.
Die Häuser in Nebenstedt sind, wenn älteren Baujahrs, alle echte
Niedersachsenhäuser mit Fachwerk und an der Giebelseite haben sie eine große
Einfahrt für die Fuhrwerke. Die Bauernhäuser sind meistens so errichtet.
Über deren Diele sind außen auf den Holzbalken häufig fromme Sprüche, oft
aus der Bibel, angebracht.
Zwischen den Holzbalken ist bei den älteren Gebäuden ein Geflecht mit Lehm
verbaut, die neueren Häuser haben manchmal ein Gemäuer von einer
Ziegelbreite.
Ein Bauernhaus hat für den Rauchabzug keinen Schornstein, so dass sich der
Rauch einen Weg über eine Öffnung ganz oben in der Decke suchen muß. Der
Wohnbereich ist auf diese Art mit einer Räucherkammer zu vergleichen, und
dessen Bewohner leben dort mit geröteten Augen, weil ihnen der Qualm durch
jahrelange Einwirkung die Augen reizt.
Oben auf dem Dach haben sich Störche ein Nest gebaut. Das Einzige in diesem
Dorf.
Nur ein Bauernhaus in der Mitte des Dorfes unterscheidet sich von den
anderen. Es macht einen wesentlich gediegeneren Eindruck.
Die wenigen ´moderneren Wohnhäuser´ sind von einheimischen Nichtbauern
gebaut worden. Sie haben roten Klinkerstein und sind auch schon besser gegen
Kälte abgeschirmt.
Eines der wenigen Telefone im Ort besitzt die Familie L. am Eingang von
Nebenstedt. Sie sind auch für alle Postfunktionen zuständig. Z. B. können
Telegramme aufgegeben und angenommen werden.
Unsere Wirtsleute haben in ihrem Haus nicht sehr viel Platz. Ihre Wohnung
besteht aus einem Wohnzimmer, einer Schlafkammer für die Oma, einem
Schlafzimmer und einer großen Küche. Außer den Räumen, die wir bewohnen,
existiert noch ein Zimmer oben auf dem Heuboden. Übrigens werden hier alle
Schlafräume als Kammer bezeichnet. Das Leben spielt sich überwiegend in der
Küche ab. Das Wohnzimmer wird selten benutzt. Die Oma hält sich öfter darin
auf, um mit dem Spinnrad Wolle zu spinnen, wenn sie diese Arbeit nicht
direkt bei den Bauern vornimmt, die sie für diesen Zweck tageweise
einstellen, um ihre Schafwolle abzuarbeiten. Dann ist sie für Tage außer
Haus.
Sie sind über unsere Zwangseinquartierung nicht gerade erfreut. Meine Mutter
kann sich jedoch bald mit der etwa gleichaltrigen Frau anfreunden. Ihr Mann
ist vermißt und sie hat viel Zeit zum Klönsnack. Aber auch die Oma ist schon
nach einigen Tagen, in denen wir uns besser kennen lernen können, sehr
freundlich zu uns. Es sind also nette Leute.
Eugen wird am Ende des Dorfes bei einer anderen Familie untergebracht. Es
ist erstaunlich, dass er jetzt im Krieg als Kriegsgefangener relativ viel
Freiheit genießen kann.
Unsere Vermieter besitzen eine Kuh, die in einem Stall hinter dem Haus
untergebracht ist. Sie heißt Ella. Dazu kommen ein Schwein, ein Schaf,
einige Hühner und Kaninchen und ein großer Garten. In den Stall ist auch das
Plumpsklo eingebaut, in dem zu handlichen Stücken geschnittene Zeitungen auf
einem Haken zur Bedienung aufgehängt sind.
Links neben dem Stall ist ein Ziehbrunnen vorhanden, aus dem, wie damals im
ganzen Dorf üblich, das Wasser mit einem Eimer geschöpft wird. Die
Umlenkrolle des Brunnens ist eine alte Fahrradfelge, die aus Platzgründen
sicher irgendeinmal den Ziehbalken abgelöst hat, der im Ort ab und zu auch
noch zu entdecken ist.
Wen kümmert´s zu dieser Zeit, dass die Jauchegrube nicht sehr weit entfernt
liegt, und das Grundwasser manchmal bei Hochwasser schon bei Spatentiefe
hervortritt. Daneben werden auch noch ein paar Felder mit Kartoffeln und
Roggen bepflanzt. Das alles ist jedoch überwiegend für die Eigenversorgung
gedacht.
Die Leute hier sprechen alle Plattdeutsch, an das wir uns erst gewöhnen
müssen. Mein Opa versteht es am besten, weil er in seiner Jugend als
Wandergeselle eine Zeit in Lüneburg gelebt hatte.
Da wir nun eine eigene Wohnung haben, muß auch an Möblierung gedacht werden.
Drei Betten Tisch und Stühle erhalten wir über die zu der Zeit noch
funktionierende Verwaltung der Stadt. Auch ein Ofen gehört dazu. Eine aus
Ostpreußen mitgenommene Holzkiste dient als Sitzbank. Damit sie etwas
weicher ist, wird eine Decke darüber gelegt. (Diese Kiste steht noch heute
in unserem Keller)
Die Betten haben als Matratzenersatz Strohsäcke, die nach jeder Benutzung
erst einmal aufgeschüttelt werden müssen. Das staubt natürlich und erinnert
die Nase an Gerüche, die nicht in einem Schlafraum, der ja auch als Wohnraum
dient, eher in einem Heustall üblich sind. Da jede Nacht die Unterlage noch
einmal durch gedroschen wird, werden die Strohhalme immer kürzer und ein
regelmäßiger Austausch muß vorgenommen werden.
Der Ofen hat ein langes Ofenrohr, das erst in der Decke im Kamin
verschwindet. Dieser reicht nicht bis zum Boden und ist sehr baufällig. Da
der Dachboden mit Heu voll gefüllt ist, denkt man schon einmal an einen
möglichen Brand nach. Das lange Ofenrohr zur Decke hat auch Vorteile, da
hierdurch die Heizwirkung enorm gesteigert wird.
Das ist auch nötig, denn die zwischen dem Fachwerk angebrachte einlagige
Ziegelschicht ist nicht mehr ganz intakt und wenn von Osten ein
normalerweise immer vorhandener Wind weht, kann man dieses als leichtes
Lüftchen im Zimmer spüren. Die Fenster sind nicht, wie gewohnt als
Doppelfenster ausgelegt. Sie lassen, sich für uns völlig ungewohnt, nach
außen öffnen und sind, mit altem bröckeligem Fensterkitt versehen, nicht
gerade als dicht zu bezeichnen.
Das Kochen mit einer Platte wird auf dem Ofen zur Kunst, falls es etwas zu
kochen gibt. Wir sind jedoch auf dem Lande und bald wird sich, mindestens
eine Zeit lang, die Versorgungslage zum Positiven ändern.
Neben dem Misthaufen haben wir uns aus Brennholzscheiten, welche die Wände
bilden, einen Stall zusammengebaut. Dieser Stall wird von uns ´Geschäft´
genannt und birgt auch die Geräte, wie Axt, Beil, Harke, Spaten und Hacke,
die wir zusammengeschachert haben. Wir erhalten nämlich im Garten ein
kleines Beet, das wir zur Eigennutzung bearbeiten können. Später im Frühjahr
können schon einige Gemüsesorten gesät oder gesetzt werden. Da das für mich
alles neu ist, grabe ich die Erbsen und Bohnen nach ein paar Tagen aus, um
zu sehen, ob sie schon gekeimt haben. Nach der Abschätzung werden sie wieder
im Boden versenkt.
Von unserem Fenster ist die Allee zwischen Dannenberg und der Elbbrücke
einzusehen. Auf diese Distanz von etwa einem km ist der aus dem Osten nun
anrollende Treck gut zu beobachten. Es ist ein langer Zug von
Pferdegespannen mit manchmal darüber gespannten Zeltplanen, der sich Tag und
Nacht über die Straße quält.
Sie sind mittlerweile heil und glücklich über die Elbe gekommen. Ab und zu
kommen Tiefflieger, deren Maschinengewehrsalven zu hören sind, wenn sie die
Trecks auf der Straße beschießen.
In Nebenstedt und den anliegenden Dörfern, wie Splitau, Groß-und Klein
Gußborn, Damnatz und Breese sind alle freien Räume mittlerweile mit
Flüchtlingen besetzt.
Es entstehen heiße Diskussionen, wie lange der Krieg noch dauern könne. Das
von den Alliierten unbesetzte Deutschland besteht im Norden nur noch aus
kleinen Teilen Mecklenburgs und einem Teil der Gegend westlich von uns. Der
Rest Deutschlands ist schon in der Hand der Alliierten. Es kann bis zum
Kriegsende nicht mehr lange dauern. Dennoch gibt es einige Fanatiker, die an
den Endsieg glauben. Einige versprechen sich etwas von angeblichen
Wunderwaffen.
Manchmal werden wir durch erdbebenartiges Dröhnen wach, wenn das 139 km
entfernt liegende Hannover bombardiert wird. Es werden dort ganze
Bombenteppiche gelegt.
An einem Abend ist von uns aus zu beobachten, wie über dem 50 km entfernten
Lüneburg ´Tannenbäume´ abgesetzt werden, denen dann der Luftangriff folgt.
Diese ´Tannenbäume´ sind Leuchtkugeln in der Luft, die von voran fliegenden
Flugzeugen abgeschossen werden, um den nachfolgenden Bombern das Gebiet
abzustecken und zu erleuchten.
Wenn die Bomben nicht fallen würden, wäre der Anblick der bunten Kugeln am
dunklen Himmel fast schön zu nennen. Die Menschen dort tun uns besonders
leid, weil wir mit Bomben ja auch schon unsere Erfahrung gemacht haben. (Auf
der Herfahrt ebenfalls in Berlin)
Die Möglichkeiten des Luftschutzes sind in Nebenstedt nicht gerade rosig.
Der Keller im Haus hat noch nicht einmal eine Betondecke. Die Nachbarin
besitzt hinter dem Gartenzaun einen von ihrem Mann handgefertigten Bunker,
der durch Balken und Bretter von oben mit darüber geschaufelter Erde
geschützt ist.
Diese Schutzmöglichkeit ist höchstens gegen Splitter wirksam.
Ein Bauer, mit dessen Sohn ich mich angefreundet habe, besitzt unter dem
Kuhstall einen Keller, der mit seiner Betondecke noch den sichersten
Eindruck macht. In dieser Zeit liegen wir, durch viele Sirenen vorzeitig
gewarnt, in voller Kleidung im Bett. Ich weigere mich sogar die Schuhe
auszuziehen.
Seit dem Bombenangriff ist jeder Fliegeralarm ein ausgezeichnetes
Abführmittel für mich.
Da für Fliegerangriffe bestimmte Keller vorgesehen sind, wird der Keller
auch noch von anderen Leuten benutzt. Die Gefahr eines Bombenangriffs ist
auf dem Dorf nicht sehr groß, aber das hat man in Dannenberg auch gedacht.
Wer kann schon garantieren, dass hier nichts passiert, zumal der Ostbahnhof
nur rund ein Kilometer entfernt liegt.
Immer wieder beobachten wir Tiefflieger, welche die Allee nach Dannenberg
mit ihren MG-Salven beharken. Von deutscher Abwehr ist nicht mehr viel zu
sehen. Einmal entdecke ich beim Auftauchen von Flugzeugen kleine Wölkchen in
der Luft, wie Wattebäuschchen, und erfahre dann, dass dieses die Flakabwehr
sei, die versuche, die Flugzeuge herunterzuholen.
Eines Tages höre ich ein seltsames Rauschen aus den Wolken und kann dann
zwischen Wolkenfetzen deutsche Flugzeuge entdecken, die ohne Propeller
angetrieben werden. Da hatte ich durch Zufall wohl die ersten Düsenflugzeuge
entdeckt, die kurz vor Kriegsende von den Deutschen in die Luft geschickt
wurden.
Sie können sich, wie man hört, nicht sehr lange in der Luft halten. Dann
geht ihnen der Treibstoff aus.
Einen Luftkampf verfolge ich in dieser Zeit mit eigenen Augen, als ein
deutsches Flugzeug sehr niedrig über unser Haus hinweg zieht und von einem
amerikanischen Jäger verfolgt wird. Der Amerikaner beschießt den Deutschen
mit MG-Salven, und das deutsche Flugzeug stürzt noch in Sichtweite brennend
in der Nähe des Splitauer Friedhofs ab.
Mit mehreren Kindern laufen wir zu der etwa einen Kilometer entfernten
Absturzstelle. Das deutsche Flugzeug liegt total zerstört und rauchend in
der Nähe des Splitauer Friedhofs. Der Pilot konnte sich nicht retten und
befindet sich tot in der Flugzeugkanzel. Als wir uns dem Wrack nähern
wollen, werden wir von dem mittlerweile auch angekommenen Dorfgendarmen
weggescheucht.
Wir Kinder haben viel Zeit, denn der Schulbetrieb ist in diesen Kriegswirren
schon lange eingestellt. Darüber sind wir nicht sehr traurig, kann man doch
hier auf dem Land nicht über Langeweile klagen.
Dieses Frühjahr 1945 hat viele schöne Tage. Daher kann ich die uns nach
Berlin überfliegenden amerikanischen Flugzeuge nicht nur hören, sondern auch
sehen. Ich lege mich oft auf den Boden und zähle mit Blick nach oben die
immer in Gruppen fliegenden Maschinen, die von der Sonne angestrahlt, als
hell leuchtende Punkte gut zu erkennen sind.
Die vielen Motoren erzeugen ein Auf-und Abschwingen von tiefen Tönen.
Es ist mir unheimlich, auch wenn sie sehr hoch fliegen. Ich komme beim
Zählen manchmal auf über 800 Bomber, und gebe das Zählen dann auf.
Zuweilen lassen die überfliegenden Maschinen so genanntes Lametta
heruntersegeln. Es liegt dann in Mengen auf dem Boden herum. Wir Kinder
sammeln es auf, um es später an den Weihnachtsbaum hängen zu können. Diese
Metallstreifen sollen wohl die Ortung der Flugzeuge mit Radar stören oder
unmöglich machen.
Die Fliegerangriffe werden über Rundfunk angekündigt. Wir haben zwei
Volksempfänger aus Ostpreußen gerettet und verfolgen diese Einflüge. Es gibt
auf der roten Skala des Gerätes den so genannten Drahtfunk, der
ausschließlich Warnmeldungen vor Flugzeugen durchgibt. Für uns sehr
beruhigend, ständig den Luftlagebericht zu empfangen, um auf diese Einflüge
reagieren zu können. Man kann sich auf diese Durchsagen gut verlassen,
wenngleich viele andere Nachrichten fast nur noch erlogen sind, besonders
die über deutsche Siege.
Nebenstedt ist zur Jeetzel nach Süden hin durch einen Deich gesichert, der
von Dannenberg bis weit hinter Splietau das Land zwischen Jeetzel und Elbe
gegen Hochwasser abschirmen soll. Dass dieses nicht immer glückt, kann an
den vielen Bracks erkannt werden, die durch Deichbrüche entstanden sind und
sich dann als mehr oder weniger große Wasserflächen auf Dauer erhalten
haben.
Hinter diesen Deich ziehen wir bei Fliegeralarmen, um uns in den dahinter
befindlichen Eichenwäldern zu verstecken. Es treffen sich an dieser Stelle
immer einige Leute aus dieser Gegend, die uns völlig unbekannt sind.
Eine Frau aus Hamburg, die dort von Flugzeugen ausgebombt wurde, ist durch
ihre Erlebnisse so hysterisch geworden, dass sie uns ständig ermahnt, nicht
zu sprechen, da die Flugbesatzung alles hören und uns somit orten könne. Sie
versteckt sich hinter dicken Baumstämmen, damit die Piloten, die in großer
Höhe fliegen, sie nicht sehen können.
Am 20. April, es ist der Geburtstag von Adolf Hitler, fliegen wieder einmal
Flugzeuge, diesmal allerdings nicht so hoch, über uns hinweg. Nach kurzer
Zeit hören wir, etwas entfernt östlich von uns, Bombeneinschläge. Es scheint
dies ein intensiver Angriff zu sein und kann, der Richtung nach, nur den
Elbbrücken gelten.
Opa bemerkt spöttisch, es sei das Geburtstagsgeschenk der Amerikaner oder
Engländer an den Führer.
Bald erfahren wir, dass beide Elbbrücken zerstört seien. Damit ist nun die
Verbindung zum Osten an dieser Stelle bis nach Dahlenburg im Norden und
Wittenberge im Süden für lange Zeit für Fahrzeuge und Bahn unterbrochen. Es
wird rund 40 Jahre dauern, bis die Straßenverbindung nach Dömitz wieder
hergestellt sein wird.
Die Grausamkeit des Krieges wird uns praktisch vor der Tür vor Augen
geführt, als ein deutscher Hauptmann, der wohl immer noch fanatisch an den
Endsieg glaubt, mit sechs polnischen Gefangenen vorbeizieht, viel
herumschreit und sie aus uns nicht bekannten Gründen mit seiner Pistole
erschießt.
Überhaupt wimmelt es jetzt von Soldaten und Flüchtlingen, die jeden freien
Wohnraum im Dorf zugewiesen bekommen.
Da gibt es die Frau F. mit ihrer Schwester aus dem Sudetenland mit drei
Jungen, Frau B. aus Berlin mit drei Töchtern, den Herrn W. mit Frau und
kleiner Nichte von der Kurischen Nehrung mit seinem breiten ostpreußischen
Platt und viele andere.
W. haben das Deichwärterhäuschen, das am Ortsende an der Straße nach Lüchow
mitten auf dem Deich rechts von der Straße steht, erhalten. Es ist total
verfallen und wird nach mühsamer monatelanger Arbeit überwiegend von seiner
Frau wieder in Ordnung gebracht. Danach ist sie so erschöpft, dass sie nicht
mehr lange lebt.
Die Nichte spricht wie ihr Onkel einen breiten ostpreußischen Dialekt. Oft
hat sie eine alte abgenutzte Puppe im Arm und als sie uns einmal besucht,
sagt sie weinend:
´Jeh, Jeh, der Onkel Horst´sche jibt mer keine neue Puppe´.
Woher sollte der Onkel in dieser Zeit auch die Puppe nehmen?
Eines Tages erscheint W. mit Fahrrad und voller Milchkanne, um ein
Schwätzchen mit uns zu halten. Die Milch hat er wohl bei einem Bauern
ergattert.
Mit der Entschuldigung, er müsse jetzt gehen, weil seine Frau zu Hause auf
ihn warte, zieht er per pedes los und schiebt das Fahrrad neben sich her.
´Aber Herr W., auf dem Fahrrad geht es doch viel schneller´, ruft meine
Mutter hinter ihm her
´Sie haben Recht´, ruft er zurück und schwingt sich auf den Drahtesel.
Nach kurzer Zeit liegt er auf der Nase. Seine Milch versickert im Boden.
Eines Tages kommt Eugen morgens ganz aufgeregt zu uns und berichtet, er sei
letzte Nacht beinahe von jemandem ausgeraubt oder ermordet worden. Als er im
Bett gelegen habe, sei die Türklinke langsam heruntergegangen. Darauf sei er
aufgesprungen und habe die ganze Nacht die Türklinke festgehalten.Wir nehmen
ihm die Geschichte nicht ganz ab, zumal Opa immer von seiner übertriebenen
Ängstlichkeit zu berichten weiß. In dem Dachzimmer unserer Wirtin ist ein
junger Mann, namens T. eingezogen. Er kommt aus Mecklenburg und hat dort
Frau und viele Kinder zurückgelassen. Offensichtlich mit voller Absicht.
Er spricht viel von Rösrath, im Rheinland gelegen, wo er gerne hin möchte.
Da er hervorragend Mundharmonika spielen kann, ist er überall gerne gesehen.
Oft wird er so lange zum Spielen genötigt, dass seine Lippen total zerfranst
sind und er das Spielen für Tage aufgeben muß. Nachts verschwindet er
manchmal. Keiner weiß so recht, was er in dieser Zeit treibt. Man kann es
nur vermuten. Als eines Tages der Gendarm erscheint, um ihn mitzunehmen,
erfahren wir, dass er in der Gegend einiges hat mitgehen lassen. Seitdem
bleibt er verschwunden.
Die Erwachsenen denken sich allerlei Spielchen aus, z. B. demonstriert uns
ein Nachbar, dass er unseren Stuhl, auf dem Oma auf der Ladefläche des LKWs
gesessen hatte, mit den Zähnen an der Rückenlehne hoch in die Luft heben
kann. Alle sind über diese artistische Leistung erstaunt, und niemand vermag
es nachzumachen.
Die Eindrücke der Zähne in den Lack des Stuhls konnten wir dann noch
jahrelang bis zum Ende des Stuhls bewundern.
Lange bleibt das Zimmer, in dem T. wohnte, nicht leer. Es zieht eine Familie
aus Schlesien ein. Sie besteht aus Opa und Oma mit dem Enkelsohn H. Dessen
Mutter ist gestorben, und der Vater ist in den Wirren des Krieges nicht
auffindbar. Der Sein Opa ist zu im Enkel immer sehr streng, dass dieser
einem Leid tun kann. Er schimpft oft mit ihm herum, und H. erhält dann aus
irgendeinem Grund Stubenarrest. Manchmal darf er auch nicht heraus, um seine
Schuhe zu schonen. Diese Familie wohnt direkt über uns und am Sonntag, schon
sehr früh vor sechs Uhr, fangen die Drei regelmäßig an, herumzupoltern und
sich für den Gottesdienst fertigzumachen. Wir wohnen zwar auf dem Land, aber
so früh steht gewöhnlich niemand hier auf, und wir empfinden diese Geräusche
als sehr störend.
Sie sind streng katholisch, und das ist für uns und die rein
protestantischen Einheimischen eine Novität. Zur Kirche geht man hier zu
Weihnachten oder zu Ostern, aber nicht jeden Sonntag. Die katholische
Gemeinde besteht in Dannenberg nur aus ein paar Menschen, und deren Kirche
ist in einem kleinen Gebäude auf der Langen Straße untergebracht.
Etwas Neues, das nicht unbedingt mit der schlechten Versorgungslage in
Verbindung steht, ist für uns das Laufen in Holzpantinen.
Alle Leute in der Gegend laufen in Holzpantinen herum, ja es gibt sogar
Menschen, insbesondere Kinder, die gar keine Schuhe besitzen. Nicht weit
entfernt lebt ein Pantinenmacher, der sich über Arbeit nicht zu beklagen
braucht.
Am Ende der Straße, etwa 500 Meter entfernt, besitzt er seine Werkstatt und
wir können von ihm, wie alle hier, schnell ein Paar Holzschlorren erwerben.
Sogar im Winter läuft man in denen herum. Mit warmen Strümpfen ist das
überhaupt kein Problem. Kinder gehen damit zur Schule, auch wenn sie mit
normalem Schuhwerk ausgestattet sind.
Das Laufen in den Pantinen muß zunächst erlernt werden, danach haben wir das
Gefühl, nie anders beschuht gewesen zu sein. In dieser schlechten Zeit, in
der das Schuhwerk knapp ist, kann man auf diese Art seine Schuhe schonen.
Wir Kinder veranstalten Wettrennen mit den Dingern und erreichen
erstaunliche Geschwindigkeiten.
Das Einkellern von Kartoffeln geschieht in dieser Gegend auf für uns
ungewohnte Weise. Da die Keller, falls vorhanden, regelmäßig durch bei
Hochwasser vorhandenem Grundwasser fast bis an die Decke voll mit Wasser
stehen, ist ein Einkellern nicht möglich. Deshalb werden Kartoffeln und auch
Rüben in so genannten Mieten überwintert. Es sind flache Erdgruben, die
gefüllt, mit Stroh und dann mit Erde überdeckt werden. Bei Bedarf bedient
man sich dann durch Ausgraben der Feldfrüchte. Die Erddecke muß so bemessen
sein, dass der Frost im Winter die Kartoffeln nicht erreichen kann.
Unsere Nachbarin besitzt einen für ihre Kinder gebauten großen Sandkasten.
Darin backen wir Kinder Sandkuchen, die wir auch farbig verschönern, indem
wir rote Ziegelsteine zu Pulver zerreiben und zwischen den Sand mischen. Die
Mädchen haben Papierbogen mit farbigen Anziehpuppen, die daraus
ausgeschnitten werden. Sie können sich damit stundenlang beschäftigen. Vor
der zweiten Tochter haben wir, obwohl sie nicht sehr groß ist, riesigen
Respekt, weil sie bei Streit tüchtig Prügel austeilen kann. Dafür ist die
Älteste umso sanfter, und sie betätigt sich oft als Kindermädchen, besonders
für ihre jüngste Schwester.
Man sieht jetzt viele fliehende Soldaten. Der Menschenzug aus dem Osten hat
durch die zerstörten Elbbrücken aufgehört, durch Dannenberg zu ziehen.
Immer noch muß peinlich genau darauf geachtet werden, dass die Fenster von
innen mit schwarzen Jalousien oder Decken verdunkelt werden. Es darf kein
Lichtstrahl nach draußen dringen, was regelmäßig von außen begutachtet wird.
Zuwiderhandeln wird wegen der möglichen Fliegerangriffe streng geahndet. Da
oft die Stromversorgung unterbrochen wird, ist diese Abdunkelung zeitweise
überflüssig geworden.
Auf dem Gelände eines Hofes in Richtung Lüchow steht eine alte Scheune, die
bisher nicht besondere Beachtung fand. Das hat sich jedoch in wenigen
Stunden geändert, als bekannt wird, dass dort ein Lager mit allerlei
nützlichen Dingen untergebracht ist. Da in dieser Zeit jedermann scharf
darauf ist, Waren zu ergattern, die normalerweise nicht zu erhalten sind,
sei es auch nur, um zu tauschen, ziehen die Eingeweihten zu diesem Garten
Eden, um sich dort umzusehen und zu bedienen.
Es handelt sich hier um überwiegend große Glasballons von etwa 20 Litern
Inhalt. Niemand scheint als Eigentümer für dieses Depot zuständig zu sein.
Mit dem LKW ist es kein Problem, diese Flaschen zu uns zu transportieren.
Beim Öffnen der Verschlüsse kommt uns ein stechender Geruch entgegen, der
einem fast die Besinnung raubt. Es stellt sich heraus, dass der Inhalt aus
Eisessig besteht, also 100 % igem Essig. Verdünnt auf 5:1 hat man immer noch
handelsüblichen Essigessenz.
Außerdem tauchen noch einige Flaschen mit Öl auf, das als Speiseöl angesehen
wird. Dieses Öl scheint der wertvollere Teil des Lagers zu sein und wird von
der gesamten Dorfbevölkerung begeistert angenommen.
Da es hier auf dem Land an Kartoffeln nicht mangelt, brutzeln in jedem Haus
die Pfannen auf dem Herd, und es werden wunderbare Flinsen gebraten.
Vorbeiziehende Soldaten, die von dem Duft angezogen werden, versorgt man
großzügig mit dieser Köstlichkeit, es ist ja genügend Öl vorhanden. Auch
meine Oma hat schnell die Pfanne auf dem Ofen. Sie geht allerdings sparsam
mit dem Öl um, was auch bei diesem Überfluß für sie trotzdem durchaus normal
ist.
Die Folge dieser Orgie läßt nicht lange auf sich warten. Unsere Hauswirtin
wacht als eine der ersten im Bett auf und bemerkt, dass sie den Gang zum
Plumpsklosett gespart hat.
Das ganze Dorf hat sich, falls das Örtchen nicht mehr erreicht wurde, von
oben bis unten besch...n. Ermattet liegt man nun danieder und denkt über das
vermeintliche Speiseöl nach. Uns geht es relativ gut, weil Oma mit dem Öl
sparsam umgegangen ist. Wir denken auch an die weiter gezogenen Soldaten,
die sicherlich so schnell nicht aus dem Straßengraben herausgekommen werden.
Eine Fahrt mit dem Pferdewagen in die Blaubeeren (Bickbeeren), die zuweilen
von einem Flüchtling, namens L., mit seinem Pferdegespann aus Splitau
organisiert wurde, soll wegen der vielen notwendigen Rastpausen nicht weit
gekommen sein. Irgendjemand bringt eine Ölprobe zur Apotheke nach
Dannenberg, wo das Öl als Maschinenöl analysiert wird.
Damit ist das Thema Speiseöl für viele Nebenstedter mit einigen Leiden noch
glimpflich abgelaufen.
Mit etwas zeitlicher Distanz kann darüber sogar herzlich gelacht werden.
Natürlich auch über die armen Soldaten.
Eines Tages sind Schießereien in der Nähe zu hören, die darauf schließen
lassen, dass die Amerikaner nicht mehr weit sein können. Wir beschließen in
einen Keller zu gehen, der am Ende des Dorfes liegt und eine Betondecke
besitzt. Vor den Kellerfenstern sind Sandsäcke aufgehäuft, so dass
Gewehrkugeln nicht durch die Fenster eindringen können.
Opa ist nicht mitgegangen, er will die Befreiung durch die Amerikaner bewußt
nicht in einem Kellerloch erleben. Wie sich dann später herausstellt, hat
ihn das zweimal beinahe das Leben gekostet. Offensichtlich glaubt er, dass
ihm in den letzten Stunden des Krieges überhaupt nichts mehr passieren kann.
Der Keller ist überfüllt mit vielen Dorfbewohnern. Irgendwo finden wir eine
Ecke, in der wir uns niederlassen können.
Es wird unter den Anwesenden viel diskutiert, wie sicher so ein Keller ist.
In die Decke sind leichte Stahlträger eingelassen, die für einige schon eine
garantierte Lebensversicherung bedeuten, so meinen sie wenigstens. Es dauert
gar nicht lange, da hört man draußen das Pfeifen von vielen Kugeln und
ständig Kampfgeräusche, die den meisten unter uns fremd sind, da ja sich ja
hier nur Zivilpersonen aufhalten.
Weil in dieser Situation in Deutschland niemand mit großen Kampfhandlungen
gerechnet hat, es ist ja im Osten von uns praktisch kein unbesetztes
Deutschland mehr vorhanden, und hier stehen schon die Amerikaner, sind wir
sehr erstaunt, wer hier noch auf deutscher Seite kämpft. Die paar Meter bis
zur Elbe können auch für fanatische Generäle keinen Wert mehr haben. Wer
will denn als Soldat für diese paar Quadratkilometer, die in dieser Ecke
noch unbesetzt sind, sein Leben lassen? Die Kämpfe dauern noch Stunden und
niemand getraut sich verständlicherweise nach oben zu gehen, um einen Blick
nach draußen zu werfen.
Es ist bekannt, dass die Amerikaner bei Gegenwehr sehr viel Material, statt
Menschen einsetzen. Wie mag es dann in dem Dorf wohl jetzt schon aussehen?
Einige junge Frauen haben sich bei den Alten unter deren Rock versteckt.
Nach Stunden hören wir über uns Schritte, und plötzlich stehen die ersten
Amerikaner vor uns. Sie suchen nach deutschen Soldaten. Es gibt hier keine.
Darauf holen sie sich ein 14-jähriges Mädchen nach oben, um es zu
vergewaltigen.
Aus dem Keller traut sich keiner heraus.
Es dauert gar nicht lange, und Opa steht vor uns.
Er hat einen amerikanischen Soldaten bei sich, mit dem er hierher gekommen
ist. Sozusagen als Leibwache. Wie er das geschafft hat, wissen wir nicht.
Der nimmt kurzerhand unseren Koffer in die Hand, und wir marschieren mit
beiden durch das Dorf nach Hause. Den Amerikaner an unserer Seite, fühlen
wir uns sehr sicher. Aber wie sieht hier alles aus.
Viele Bauernhäuser sind nur noch Trümmerhaufen, aus denen Rauch und
teilweise noch Flammen schlagen. In einigen Ecken stehen Panzer und auf der
Straße, den Wegen und Feldern liegen haufenweise leere Patronenhülsen herum.
Der Brandgeruch geht uns nicht aus der Nase und wir sind jetzt nach diesen
Eindrücken doch verängstigt. Opa scheint sich jedoch mit unserer Leibwache
gut zu verstehen und macht trotz der Umstände einen fröhlichen Eindruck.
Als wir bei uns zu Hause anlangen, bemerken wir, dass die Haustüre von den
Kämpfen etwas demoliert wurde. Zwei große Einschußlöcher mit zersplittertem
Holz und eine dahinter stehende Wäscherolle, die diese Schüsse ebenfalls
abgekommen hat, zeugen davon.
Als wir unsere Zimmertüre öffnen, erblicken wir viele Menschen. Es kommt uns
so vor, als wäre das ganze Dorf hier versammelt. Einige liegen in unseren
Betten und wir wissen nicht, wo für uns noch ein Plätzchen frei ist. Es sind
dieses alle diejenigen Leute, deren Häuser abgebrannt sind.
Eine Frau, die in einem der Betten liegt, ist eine Bäuerin im Dorf. Deren
Haus ist das schönste und größte im Ort und sticht die anderen Häuser durch
seine Bauart aus. Das muß den Amerikanern ebenfalls aufgefallen sein, denn
sie haben sich darin sofort wohnlich niedergelassen. Die anderen noch
stehenden Häuser sind ebenfalls zum größten Teil nicht von den Amerikanern
verschont geblieben, so dass für die Deutschen kaum noch Platz übrig bleibt.
Jetzt sind sie zunächst selber als ´Flüchtlinge´ bei Flüchtlingen
untergekommen.
Dass unser Haus noch steht, ist Opa zu verdanken. Gegen Ende der Kämpfe hat
er im Hof seine Nase nach draußen gesteckt und bemerkt, dass sich durch den
Garten ein Panzer mit hoher Geschwindigkeit dem Haus näherte. Offensichtlich
wollte er das Haus umwalzen. Todesmutig stellte Opa sich in die Fahrrichtung
und der Panzerführer hielt sein Fahrzeug an.
Wir bewundern nun die in den Sand tief eingegrabenen Panzerspuren, die bis
kurz vor das Haus führen. Ob dieses Verhalten von ihm sehr überlegt war?
Sicherlich nicht.
Seinen Schutzengel hatte er kurz davor schon einmal getestet, als er noch
bei den Kampfhandlungen vor die Haustüre schaute, um die Lage zu peilen. Es
wurde viel um ihn herum geschossen. Als er deshalb schnell wieder
hineinging, hatte er kurz vorher wohl als Zielscheibe gedient. Wenige
Sekunden später pfeifen zwei Kugeln größeren Kalibers heran. Sie
durchschlagen die Haustüre, und die seitlich dahinter stehende Wäschemangel
erhält auch davon etwas ab. Wir können nachträglich die Einschüsse an der
zersplitterten Türe bewundern. Ein Gußteil an der Mangel ist abgesprungen,
ohne dass deren Funktion beeinträchtigt wird.
Das Problem mit unseren Mitbewohnern löst sich, weil sie sich besinnen, dass
wohl bei dem Rest der einheimischen Bevölkerung, die in ihren Häuser bleiben
darf, eine geräumigere Bleibe zu finden ist. Die Freude, dass der Krieg für
uns zu Ende ist, wird etwas gedämpft. Jetzt beginnen die Deutschen nämlich
mit Artillerie in das Dorf hineinzuschießen. Also gehen wir mit allen
Hausbewohnern in den bis dahin verschmähten Keller unter unserem Zimmer.
Die Granaten fliegen genau über unser Haus, was man an deren Heulen gut
feststellen kann. Die Männer bemerken, dass, solange man dieses Heulen noch
hören kann, keine Gefahr besteht. Wir können auch die Einschläge vernehmen,
die in die Felder Richtung Dannenberg niedergehen. Doch das Pfeifen der
Granaten wird merklich kürzer, und die Einschläge kommen näher. Während das
Heulen am Anfang vielleicht 1 - 2 Sekunden dauerte, ist es jetzt nur noch
eine halbe Sekunde lang. Die Einschläge werden lauter und lauter.
Dann scheint der deutschen Artillerie die Munition auszugehen. Es bleibt
still. Nach einiger Zeit gehen wir beruhigt wieder nach oben. Es ist Ruhe
eingetreten.
Die Trümmer im Dorf brennen und qualmen noch tagelang. Wer sollte hier auch
löschen kommen?
Es ist erstaunlich, was die amerikanischen Soldaten alles an Lebensmitteln
zur Verfügung haben. Man findet auf der Straße benutzte Dosen und
Verpackungen mit allem möglichen, für uns ungewohnten Leckereien. Kaffee,
Fleisch, Kaugummi scheinen im Überfluß vorhanden zu sein. Ab und zu liegen
diese Waren auch unbenutzt herum, und wir Kinder suchen eifrig nach diesen
Kostbarkeiten. Wenn wir Glück haben, kriegen wir von den Soldaten ein Stück
Schokolade geschenkt.
Das Leben ist zwar recht primitiv, doch genießen wir nun die Zeit, weil die
Angst vor den unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängenden Ereignissen uns
nicht mehr drückt. Auch braucht man sich vor den Nazis nicht mehr vorzusehen
und kann frei reden.
Das Dorf ist am Boden mit leeren Patronenhülsen voll gestopft. Diese sind
für uns Kinder ein begehrter Sammelartikel. Man kann in kurzer Zeit damit
viele Eimer füllen. Es gibt die kleineren Hülsen und dann die etwas
größeren, die meistens in kleinen Gruppen zusammengeklammert sind. Ab und zu
finden wir auch eine große Panzerkartusche. Die kleinen Hülsen stecken wir
auf einen Stock, um diesen dann in Verlängerung des Arms als Wurfwaffe zu
benutzen. Sie fliegen dann sehr weit und geben durch ihre Drehung in der
Luft ein unregelmäßiges Pfeifen von sich.
Es gibt Hülsen mit verschiedenfarbigen Zündhütchen, also werden sie auch
nach den roten, grünen und blauen Farben sortiert. Kaum glaublich, was an
einem Tag an Munition in diesem kleinen Ort verschossen wurde. Hier müssen
Zehntausende Hülsen herumliegen. Noch Jahre danach werden immer wieder
welche auf den Feldern gefunden.
Die Amerikaner halten sich relativ lange in diesem Dorf auf. Es soll eine
Strafkompanie sein, die gerade in Nebenstedt gelandet ist. Manchmal kommen
sie einfach ins Haus, um sich ihr Essen in der Küche warm machen zu lassen.
Sie sitzen auf ihren Stahlhelmen im Flur und in der Küche und lassen es sich
schmecken.
Eines Nachts erscheinen sie und vergewaltigen eine Frau mehrmals. Sie gehen
der Reihe nach zu ihr, und alle Deutschen sind dagegen machtlos. Als am
nächsten Tag ein Offizier erscheint, erzählt sie ihm von ihrem Unglück. Der
will sich um die Angelegenheit kümmern und legt sich nächste Nacht auf die
Lauer. Als die Burschen wieder erscheinen, es dauert gar nicht lange, kommt
er aus seinem Versteck hervor und putzt seine Leute ordentlich herunter. Die
können nun nicht schnell genug verschwinden und lassen sich im Haus nicht
mehr sehen.
Der ehemalige Bürgermeister von Nebenstedt wohnt in der Nähe vom Ostbahnhof.
Er ist ein älterer lieber Mensch, der keiner Fliege etwas zu leide tun kann.
Als die Amerikaner nun einmarschiert sind, suchen sie ihn auf, um
festzustellen, ob er ein Nazi sei. Natürlich hatte er in seiner Stellung ein
Parteiabzeichen besessen. Als sie es entdecken, bemalen die Amis in seiner
Wohnung die Tapeten mit Hunderten von Hakenkreuzen. Obwohl es in seiner
Gemeinde eine Menge von Nazis gab, stellt er nun resigniert fest:
´Ich bin der Einzige, der hier ein Nazi gewesen ist´.
Kein anderer wollte sich an seine Vergangenheit erinnern.
Als die amerikanischen Tiefflieger am Ostbahnhof die Straße beschossen
hatten, soll er im Graben gelegen und gerufen haben:
´Ja, schießt nur, aber wir werden doch siegen´.
Natürlich hatte er es nur zynisch gemeint.
Nebenstedt scheint so etwas wie ein Hauptquartier der Amerikaner zu sein.
Dafür wird offensichtlich auch ein Flugzeug benötigt. Da eine Start-und
Landebahn nicht vorhanden sind, hat man sich hierfür nach einer Straße
umgesehen. Nun sind diese Straßen hier meistens als Alleen gebaut, und für
Flugzeuge ungeeignet. Die einzige mögliche Landebahn, ohne Bäume in der
Nähe, liegt vor unserer Haustüre.
Sie ist für den ´Fieseler Storch´ lang genug und ist trotz
Kopfsteinpflasters und der geringen Breite eine geeignete Start-und
Landebahn. Man hat am Anfang der Straße fast vor unserer Haustüre ein großes
weißes Laken ausgelegt, damit der Pilot schon von weiten seine Landefläche
erkennen kann.
Für uns Kinder ist diese Flugtätigkeit unmittelbar vor unseren Augen
besonders interessant. Da hocken wir oft stundenlang vor dem Haus, um den
Start-und Landevorgängen des Doppeldeckers zuzusehen.
Ein Amerikaner aus Splitau hat unseren Hund Prinz gesehen und ist ganz
begeistert von ihm. Er will ihn uns abkaufen und nach Amerika mitnehmen. Wir
haben jedoch keine Lust, mit ihm ins Geschäft zu kommen. Dafür hängen wir zu
sehr an unserem Hund. Eines Tages ist unser Liebling nun schon zum zweiten
Mal verschwunden. Der Amerikaner hat ihn einfach mitgenommen.
Da wir gegen die Besatzungsmacht nichts unternehmen können, müssen wir den
Diebstahl hinnehmen, so sehr wir das bedauern. Es dauert jedoch gar nicht
lange, da sehen wir, wie Prinz mit kleinen schnellen Schritten die
Landstraße aus Splitau herbeieilt und bald glücklich wieder bei uns landet.
Er hat den Weg ganz alleine nach Hause gefunden. Der Amerikaner läßt sich
nicht wieder sehen. Vielleicht hat er ihn ja auch wieder freigelassen, weil
er mit ihm später nichts anfangen konnte.
Weil das Frühjahr vor der Türe steht, muß bald an die Gartenarbeit gedacht
werden. In dieser schlechten Zeit ist das Pflanzen von Gemüse besonders
wichtig, da man ausschließlich auf Eigenanbau angewiesen ist. Das Kriegsende
hat die Lebensmittelversorgung nicht grundsätzlich verbessert, eher sind die
Lebensmittel noch knapper geworden.
Beim Zusammenkehren von Laub in Nachbars Garten muß sich auch eine scharfe
Patrone im Laubhaufen verirrt haben. Als die Nachbarin das Laub anzündet,
fliegt nach kurzer Zeit eine Kugel mit lautem Knall über unsere Köpfe
hinweg. Da werden wir vorsichtiger und im weiteren Verlauf finden wir noch
eine ganze Menge scharfer Munition.
Opa hat in den Trümmern einiger Häuser Reste von Fahrrädern entdeckt und
baut sie aus Einzelteilen so zusammen, dass wir bald ein Damenfahrrad und
für mich ein Kinderfahrrad besitzen. Außerdem hat er von irgendwoher ein
Herrenfahrrad organisiert.
Das Problem in dieser Zeit sind die Reifen. Man kann keine bekommen und so
stückelt Opa aus Reifenresten welche zusammen, die sich aus Einzelteilen
überlappen. So besteht ein Reifen aus 6 bis 10 solcher Teile, die geschickt
übereinander montiert sind.
Weil zu der Zeit die Handbremse von oben auf den Reifen wirkt, darf man mit
ihr nicht Bremsen, sonst würden die Reifen auseinander fliegen.
Die Menschen bringen in dieser Zeit viel Phantasie auf, um sich mit ihrem
fahrbaren Untersatz bewegen zu können.
So sehe ich einen Radfahrer, der um die Felgen seines Drahtesels ein dickes
Hanfseil gebunden hat, das Schlauch und Reifen ersetzen soll. Ein anderer
fährt sogar auf blanker Felge. Wie weit er damit kommen will, ist mir nicht
ganz klar. Unser Damenrad wird in einem hellen Blau gestrichen, weil sonst
keine andere Farbe zur Verfügung steht. Die neu erlangte Mobilität kommt uns
sehr zu Nutzen.
Eugen ist nämlich kurz nach der Besetzung durch die Amerikaner mit dem Auto
abgehauen. Er wollte wohl so schnell wie möglich nach Frankreich zurück, was
man ja auch verstehen kann. So haben wir jetzt einen Esser, für den wir
keine Lebensmittelmarken erhalten, weniger.
Mit dem Laster soll er nicht sehr weit gekommen sein, dann haben ihm die
Amis bei Uelzen das Fahrzeug abgenommen. Hätte er es stehen lassen, wäre das
Auto für uns in dieser Zeit, aber auch später sicher sehr nützlich gewesen.
Es stellt in dieser Zeit ein Vermögen dar.
Der Essig erweist sich mittlerweile als ideales Tauschmittel gegen allerlei
Lebensmittel bei den Bauern.
Die ersten Tests beim Tauschen sind erfolgreich verlaufen. So fahren Opa und
unser Nachbar mit den Rädern über das Land und bringen begehrte
Lebensmittel, wie Eier, Butter, Speck und Mehl nach Hause, von denen wir nun
reichlich besitzen. Diese begehrten Nahrungsmittel werden in der Kammer
aufbewahrt, und einmal zählen wir einen Vorrat von etwa 200 Eiern.
In der kalten Jahreszeit muß sehr darauf geachtet werden, dass der Essig
nicht gefriert. Das geschieht zu unserem Erstaunen schon bei + 9 Grad
Celsius. Es besteht dann die Gefahr, dass die Flaschen platzen. So achten
wir sehr darauf, dass dem Essig nichts geschieht. Auslaufender
konzentrierter Essig ist so scharf, dass er sich durch alles hindurch
frisst. Außerdem ist der Geruch nicht zu ertragen, weil er intensiv in der
Nase beißt.
Aus Ostpreußen sind auch einige Fahrradteile, wie z.B. Ketten mitgenommen
worden, die beim Kompensieren, so nennt man die Tauschgeschäfte, gute
Dienste leisten.
Das Radfahren will in dieser Gegend gelernt sein. Die Straßen haben meistens
grobes Kopfsteinpflaster. Daneben ist ein Sommerweg, der für Pferdefuhrwerke
der Bauern gedacht ist. Traktoren gibt es hier zu dieser Zeit noch nicht. Am
Straßenrand befindet sich ein schmaler unbefestigter Radweg, der an einigen
Stellen sehr sandig ist, besonders bei trockenem Wetter. Der Sand ist
entweder pudertrocken oder bei Regen wie Kuchenteig. An diesen Stellen muß
man sich besonders vorsehen, um nicht auf der Nase zu landen. Wenn man
festgefahrene Stellen erwischt, macht das Fahren direkt Freude.
Das Fahrrad ist unser Hauptverkehrsmittel. Da hier im Norden oft ein
kräftiger Wind herrscht, tragen die Frauen beim Radfahren meistens
Kopftücher.
Unser Aktionsradius wird beträchtlich erweitert, und ich kann jetzt die
nähere Umgebung erforschen. So fahre ich mit den Mädchen der Nachbarin zur
Elbe, um uns die zerstörten Elbbrücken anzusehen. Wir können die
Straßenbrücke betreten.
Von unserer Seite sieht die Brücke zunächst ganz unbeschädigt aus. Man kann
hunderte Meter laufen, ohne die Schäden an der Straße zu entdecken. Das
liegt auch daran, dass die Brücke ohne Bögen gebaut, nach oben leicht
gekrümmt ist.
Zunächst ist die Elbe noch ein ganzes Stück entfernt. Unter uns liegen
Wiesen, bzw. neben uns Eichenwälder.
Von hier oben kann man auch gut die mit vielen Bögen gebaute Eisenbahnbrücke
in südlicher Richtung entdecken. Sie ist einige 100 Meter entfernt. In deren
Mitte über der Elbe klafft auch wie auf der Straßenbrücke eine Lücke von
etwa 100 Metern.
Der Blick von hier oben ist für uns recht aufregend. Unter uns die schnell
fließende Elbe, aus der die Brückenreste hervorstehen.
Auf der Brücke weht ein scharfer Wind. Vor uns bricht die Brücke abrupt ab.
Eine notdürftig hergestellte Absperrung soll verhindern, in die Elbe zu
fallen.
Wir bilden uns ein, ständig ein Knacken zu hören und befürchten, dass
vielleicht noch ein Stück der Brücke in die Elbe fallen könne. Schleunigst
verschwinden wir wieder zu der ein paar hundert Meter entfernt liegenden
festen Straße.
Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass auf der anderen Elbseite die
Russen als Besatzungsmacht herrschen.
Es kursiert hier ein Gerücht, dass auch unser Kreis bald von den Russen
übernommen wird. Die Bevölkerung lebt deshalb ständig in Angst, dass sich
das alles bald bewahrheiten möge. Leute erzählen, es seien nachts schon
einige Russen über die Elbe gekommen und hätten Frauen vergewaltigt und
andere schreckliche Dinge angerichtet.
Dieses Thema beschäftigt alle sehr intensiv. Es wird über nichts mehr
anderes gesprochen.
In Damnatz sind die amerikanischen Truppen durch eine Panzereinheit mit nur
schwarzen Soldaten ausgetauscht worden. Ihre Haut ist so dunkel, dass sie in
den Autos ohne Kopf zu fahren scheinen. Die Damnatzer sind so schockiert,
dass einige ihr Dorf aus Angst vor ihnen fluchtartig verlassen.
Erst allmählich stellt sich heraus, dass diese Schwarzen ganz liebe und
zugängliche Menschen sind, die keiner Fliege etwas zu leide tun. Auf dem
Güterbahnhof reißen sie sogar die Waggons auf, um der Bevölkerung den Zugang
zur Kohle zu ermöglichen.
Ich habe mir eine schlimme Gelbsucht zugezogen. Meine Haut hat eine gelbe
Farbe angenommen und ich sehe aus, wie ein Chinese. Es heißt, weil ich
unreife Stachelbeeren gegessen hätte. Oder war es das Maschinenöl?
Mir geht es nicht sehr gut. Alles Essen, besonders Gebratenes, ist mir
zuwider. Der Arzt weiß da auch keinen Rat. Es gibt hierfür keine
Medikamente.
Aus Angst vor den Russen laufen meine Mutter und ich nach Dannenberg, um uns
bei einem Bäcker, in der Nähe der Gastwirtschaft Keibel, in der Mehlstube
für eine Nacht zu verstecken.
Als wir am Morgen, es ist ein Sonntag, wieder nach Hause wollen, bin ich so
schlapp, dass ich mich auf einer Bank auf dem Deich ausruhen muß. Wer weiß,
wo ich mir diese Krankheit zugezogen habe?
Die Gerüchte über die Russen werden dadurch verstärkt, dass wegen
Stromausfalls niemand die Möglichkeit hat, Nachrichten zu hören. Zeitungen
gibt es auch nicht. So ganz unberechtigt ist die Furcht vor ihnen nun auch
nicht, denn wie man hört, haben die Amerikaner Thüringen den Sowjets
überlassen.
Der Pantinenmacher N., der an der Straße nach Dannenberg wohnt, ist
mindestens zeitweise mit Strom versorgt.
Aus dieser Tatsache können wir bald Nutzen ziehen.
Opa hat sich irgendwie eine Kabelrolle mit Kabel von den Amerikanern
besorgt.
Dann zieht er das Kabel über die schätzungsweise 600 Meter im Straßengraben
von N. bis zu uns. Vor unserer Unterkunft muß er noch die Straße überqueren.
An einer Stelle werden die Pflastersteine etwas tiefer gelegt und das Kabel
wird hier über die Straße gezogen. Damit es nicht so leicht beschädigt wird,
kommt eine Sandschicht darüber. So haben wir mindestens zeitweise eine
eigene Stromversorgung, die es uns ermöglicht, wenigstens Radio hören zu
können.
Diese Installation wird sich wochenlang bewähren. Der Pantinenmacher hat
offensichtlich nichts dagegen, dass man seine Leitung anzapft.
Sein einziger Nachbar besitzt eine Gastwirtschaft, die zu dieser Zeit nicht
viel zu bieten hat.
Auf Flüchtlinge ist er nicht gut zu sprechen. Er bezeichnet sie, wie wir
vernommen haben, als ´Menschenähnliche Gestalten´. Er hält sich einen
harmlos aussehenden Schäferhund.
Als meine Mutter aus amtlichen Gründen, er war so etwas wie
stellvertretender Bürgermeister, dorthin muß, beißt der Hund ihr ohne
Vorwarnung ins Bein. Sie beschwert sich daraufhin bei ihm, worauf er nur
antwortet, dass sei nicht so schlimm, am nächsten Sonntag könne sie sicher
wieder in Breese tanzen gehen.
Irgendwann im Mai erfahren wir, dass der Krieg beendet ist. Dönitz, der
Nachfolger von Hitler hat die Kapitulation unterschrieben.
Alle Menschen können nun aufatmen. Doch was soll die Zukunft bringen? Schon
entstehen neue Gerüchte. Die Westalliierten würden jetzt mit den deutschen
Soldaten gegen die Russen ziehen.
Die Bevölkerung ist für solche Märchen sehr anfällig, und es wird viel
spekuliert, was dann alles so passieren könne.
Die Flüchtlinge sind vor diesen Gerüchten auch nicht alle gefeit, hoffen sie
doch auf diese Art bald in ihre Heimat zurückkehren zu können.
Nach der Besetzung durch die Amis scheint es keine Nazis mehr zu geben. Die
größten Fanatiker und Anhänger Hitlers scheinen nie gelebt zu haben. Da eine
bürgerliche Ordnung zurückkehren muß, werden die Verwaltungsfunktionen von
den Amerikanern wieder eingeführt.
Wir erhalten in Nebenstedt einen neuen Bürgermeister, der sich jetzt
Gemeindedirektor nennt.
Er ist der Vater von A. K., der hauptberuflich weiter Bauer bleibt. Die
Bauern, deren Häuser bei den Kämpfen vernichtet wurden, planen bereits
Neubauten. Sie müssen ja auch schließlich ihren Viehbestand irgendwo lassen
und selbst wieder zu Hause unterkommen können. Die neuen Gebäude werden
schnell wieder errichtet. Diesmal aber in solider Steinbauweise ohne
Fachwerk. K. ´s Kuhstall war ganz geblieben, die Pferde erhalten jedoch
ihren Stall in einem Anbau zum Wohnhaus.
Von unserem Zimmer aus können wir auf ein Kornfeld eines Nebenstedters
blicken.
Die hiesigen Bauern behaupten, dass er jetzt schon 13 Mal hintereinander
Roggen auf diesem Feld angebaut habe. Das ist aus landwirtschaftlicher Sicht
unmöglich. Er aber hat da überhaupt keine Bedenken. Das noch grüne Korn ist
nicht gerade üppig gewachsen.
Oma schüttet ihr Spülwasser auf der anderen Seite der Straße auf sein Feld,
was an diesen Stellen das Korn sichtbar kräftiger wachsen lässt. Eine
Installation von Abwasserleitungen, auch innerhalb des Hauses, ist hier noch
nicht üblich.
Irgendwann muss die gesamte Bevölkerung zum Impfen antreten. Es gibt 3
Termine, an denen nacheinander alle gegen verschiedene Krankheiten, unter
anderem Typhus, geimpft werden.
Die Impfung ist bei mir sehr schmerzhaft und wird an der oberen Brusthälfte
vorgenommen. Diese Aktion wird von den Amerikanern veranlasst, die eine
höllische Angst vor Seuchen besitzen.
Das Kühe-hüten ist in Nebenstedt noch an der Tagesordnung.
Die Rinder werden weit hinter den Deich auf Weiden gebracht, wo sie
wochenlang draußen bleiben.
Damit ihnen nichts zustößt bzw. sie nicht abhanden kommen können, werden sie
regelmäßig beaufsichtigt.
A. K. und ich sind von dieser Aufgabe, die man uns aufgetragen hat,
begeistert. Wir erhalten für unsere Arbeit Verpflegung auf den Weg und
bewegen uns den ganzen Tag an frischer Luft.
Die Wiesen liegen weit von Nebenstedt entfernt. Es ist sehr einsam hier, und
wir fühlen uns frei, wie der Vogel in der Luft.
Der nächste Ort in Richtung Lüchow ist Klein-Heide, von dem wir in weiter
Ferne die roten Dächer erkennen können.
Auf gut zu erkletternden Eichen bauen wir uns ein Baumhaus, und die Notdurft
wird zu unserer Gaudi von den Bäumen aus verrichtet.
Das Rauchen Selbstgedrehter Zigaretten aus Zeitungspapier und altem
Eichenlaub wird fleißig geübt, auch wenn es oft zu unwohlen Zuständen führt.
Den säuerlichen Geschmack der Eichenblätter habe ich jetzt noch auf der
Zunge.
Auf die Kühe wird erst immer gegen Abend geachtet. Hier ist auch niemand der
Erwachsenen da, der uns daran hindert, unser Lagerfeuer anzuzünden, das den
ganzen Tag über brennt.
Es ist eine Freiheit, weitab von jedem bewohnten und unbewohnten Gebäude,
die wir in vollen Zügen genießen, zumal wir bisher von der Schule verschont
worden sind. Wer weiß, wann die wieder beginnt.
Der Bauer G. hat sogar seine Pferde zeitweise auf der Weide. Da ein Freund
von mir genau gegenüber von seinem Bauernhof wohnt, darf er die Pferde
abends öfter nach Hause holen.
Einmal bin ich ebenfalls bei dieser Aktion dabei. Wir laufen zu Fuß über den
Deich auf die Pferdeweide. Der Weg führt dorthin an einem Brack vorbei. Dort
angekommen, blicken uns die Pferde misstrauisch an, als wenn sie sagen
wollen:
´Was wollt ihr denn hier, lasst uns in Ruhe weiter grasen´.
Wir nähern uns vorsichtig den Gäulen und W. will sich des ´gefährlicheren´
Tiers annehmen, weil er glaubt, die Pferde genau zu kennen.
Als die beiden sich gegen die geplante Mitnahme nicht wehren, schlägt er
vor, diese zu besteigen, weil wir so viel schneller nach Hause kämen.
Meine Bedenken zu diesem Vorschlag, werden von W. mit dem Argument, die
Pferde seien zahm, zurückgewiesen. Wir besteigen also als stolze Reiter ohne
Sattel die Pferde.
Die erste Strecke geht auch sehr zügig Richtung Nebenstedt. Als wir aber vor
dem Deich an einem Brack vorbeikommen, hält es unsere Reittiere nicht
länger.
Möglicherweise sind sie auch vom Durst geplagt, weil sie auf der Weide
nichts zu saufen hatten.
Auf jeden Fall steigen sie mit uns in das erfrischende Naß und lassen sich
von uns auch nicht durch lautes Schreien und Drohen aus der Ruhe bringen.
Sie saufen sich erst einmal richtig voll, ehe sie sich nach einiger Zeit von
uns überreden lassen, den rechten Weg einzuschlagen.
Uns ist bei diesem unfreiwilligen Bad das Reiten gründlich verdorben worden.
Wir sind froh, die Pferde anschließend beim Bauern abgeben zu können.
Der wartet schon auf uns, um seine Zugtiere vor den Wagen zu spannen.
Deutschland ist jetzt in vier Besatzungszonen unterteilt.
Unsere Ecke wird nun von den Engländern verwaltet.
Die ´wilden´ Zeiten ohne Schule sind vorbei und alle schulpflichtigen Kinder
müssen wieder zur Schule gehen.
Auch ich drücke jetzt die Schulbank in Dannenberg, genau in dem Gebäude, in
dem wir die erste Woche nach der Flucht untergebracht wurden.
Die Volksschule befindet sich in Parterre. Im ersten Stockwerk hat man die
Mittelschule eingerichtet.
Ein Gymnasium hat Dannenberg nicht. Wer seine Kinder dahin schicken will,
muß sie in Lüchow oder Uelzen, 42 Kilometer entfernt anmelden. Das ist bei
den jetzigen Verkehrsverhältnissen jedoch unmöglich, da es keine geeigneten
Beförderungsmittel gibt.
Ich komme in die 3. Klasse der Volksschule.
Unser Lehrer heißt Lohmann. Er ist eigentlich schon im Ruhestand, aber da
die
ehemaligen Lehrer erst einmal entnazifiziert werden müssen, greift man wohl
zunächst auf ältere unbescholtene Lehrkräfte zurück.
Das Schuljahr beginnt jetzt zu Ostern und nicht mehr im Herbst, wie es
vorher üblich war. Eigentlich bin ich durch diese Regelung mindestens ein
Jahr in den Rückstand gekommen, aber das gilt schließlich für alle Schüler.
Der Unterricht in der Schule hat gegenüber dem des 1000-jährigen Reiches
andere Züge angenommen.
Anstatt das Horst-Wessel-Lied zu singen, singen wir am Schulschluss:
´Wach´ auf, wach´ auf du deutsches Land, hast lang genug geschlafen´.
Außerdem sprechen wir am Ende des Unterrichts ein Gebet.
Damit in dieser Zeit die Kinder etwas mehr Kalorien erhalten, als den
Meisten zu Hause einverleibt wird, erhalten wir eine Schulspeisung, bei der
jeder in seinem mitgebrachten Topf eine Suppe erhält.
In einer Einzelaktion werden bunte Vitaminpillen aus großen Gläsern
verteilt.
Die Mittel für diese Aktion sind angeblich von Chile für deutsche Kinder
gesammelt worden. Der Geschmack der Pillen ist überhaupt nicht angenehm.
Deshalb werden wir ermahnt, diese ja nicht wegzuwerfen.
Der Lehrer ermuntert uns, sofort diese Dinger zu schlucken, damit erst
niemand in Versuchung gerät, sie fortzuwerfen.
Unser Schulweg wird von den Kindern aus Nebenstedt und auch weiter
abgelegenen Dörfern zu Fuß zurückgelegt. Wir haben es noch relativ nahe. Für
uns dauert der Weg etwa eine knappe halbe Stunde und macht uns nicht viel
aus.
Dennoch versuchen wir oft, uns etwas komfortabler fortzubewegen, indem wir
fremde Transportmittel benutzen.
Es sind fast die einzigen Verkehrsteilnehmer, die jetzt außer
Militärfahrzeugen fahren, nämlich die Milchwagen, die aus allen Dörfern der
Umgebung die Milch der Bauern nach Dannenberg zur Molkerei karren.
Es sind dies mit alten Autorädern gummibereifte Pferdewagen. Das Führerhaus
besteht, wenn vorhanden, oft aus einer halben Autokarosserie, die auf dem
vorderen Wagenteil aufgebaut und dem Kutscher Schutz gegen Regen bietet.
Da viele Dörfer abgeklappert werden müssen, gibt es eine Menge verschiedener
Wagen, die morgens aus den umliegenden Dörfern durch Nebenstedt fahren. Uns
sind nach kurzer Zeit deren ´Fahrpläne´ gut bekannt. Nach kurzem
Anschleichen und Aufschwung an der hinteren Ladekante des Fuhrwerks, wird
der Milchwagen zum Taxi.
Bald teilen wir diese Wagen in geeignete und ungeeignete Fortbewegungsmittel
ein.
Denn oft sitzen wir kaum hinten auf, kriegen wir schon die Peitsche des
Fahrers um die Ohren geknallt.
Die Kutscher scheinen uns diese Mitfahrt nicht zu gönnen, bzw. haben Spaß,
uns einen Schrecken einzujagen. Da aber nicht alle so missgünstig sind, ist
die Erfolgsquote dann doch auf die Dauer ganz passabel, zumal man sich an
uns gewöhnt hat.
Den Rückweg aus der Schule müssen wir meistens aber doch zu Fuß bewältigen,
da die die Milchwagen schon lange Richtung Heimat verschwunden sind. Dann
wählen wir unseren Weg meistens über den Deich, der mit seinem Hinterland
viel Abwechslung bietet.
Gerade im Mai sitzen auf den Eichen, die hinter dem Deich stehen, Scharen
von Maikäfern, die in Pappkartons gesammelt werden, und je nach Aussehen in
verschiedene Berufsgruppen, wie Müller, Bäcker, Schornsteinfeger, oder
andere unterteilt werden.
Da kann es schon geschehen, dass ein pünktliches Erscheinen zu Hause nicht
gewährleistet ist. Meine Mutter ermahnt mich dann regelmäßig, auf dem
direkten Weg nach Hause zu kommen, was aber nicht nachhaltig Erfolg hat.
Die Menschen achten nun nach dem Krieg darauf, nur nicht als ehemalige Nazis
erkannt zu werden, falls sie es waren.
Weil die von den Besatzungsmächten in dieser Zeit geplante Entnazifizierung
angekündigt wird, ist dieses Thema Inhalt vieler Gespräche.
Eine Flüchtlingsfrau aus Dannenberg scheint mit diesem Thema auch
konfrontiert worden zu sein, wobei ihre kleinen Zwillingstöchter gute
Zuhörer waren.
Als die beiden den ersten Schulgang hinter sich haben, kommen sie nach Hause
und berichten:
´Mutti, der Lehrer hat gefragt, ob wir Deutsche sind.
Da haben wir gesagt, wir sind evangelisch. Wir haben aber nicht gesagt, dass
wir Nazis sind´.
Danach erwarteten sie wegen ihrer Klugheit ein großes Lob der Mutter.
In Dannenberg wird ein Kino wiedereröffnet, das sich vor der Jeetzelbrücke
im Ort befindet. Aus den Fenstern des Saals kann man direkt auf den Fluss
blicken.
Das Kino ist zu dieser Zeit eine willkommene Abwechslung, und die
Vorführungen sind immer ausverkauft.
Uns Kindern ist es bei nicht jugendfreien Filmen unmöglich, diese Filme
anzuschauen.
Eines Abends gelingt es uns doch, diese Barriere zu überwinden.
Auf mein Drängeln nimmt meine Mutter mich und meinen Freund mit ins Kino.
Nun ist diese Unternehmung sofort zum Scheitern verurteilt, wenn man nicht
besondere Maßnahmen ergreift. Damit wir als 14-jährige gelten, die diesen
Film besuchen dürfen, werden wir als älter aussehend verkleidet. Als
wirksamste Unterstützung, an Kinokarten zu kommen, erweist sich jedoch die
Tatsache, dass der Verkäuferin ein paar Eier zugeschoben werden.
Der Film ist sicher für Jugendliche nicht sehr geeignet, denn als der Mörder
in dem Film plötzlich durch geschickte Kameraführung nachts auf einem
Friedhof in die Szene springt, zucken wir zusammen und halten uns längere
Zeit die Augen zu.
Da der Nachhauseweg wegen der jetzt um zwei Stunden verlängerten Sommerzeit
noch im Taghellen vorgenommen wird, haben wir beide uns dann sehr schnell
wieder beruhigt.
Mein Opa bemüht sich nun um Arbeit. Wir haben bisher ja nur von der Substanz
gelebt. Irgendwann wird unser Sparkassenbuch aus Ostpreußen leer sein. Gott
sei Dank kann man immer noch Geld davon auf der Kasse abheben.
Doch wo soll man in diesen Zeiten eine Arbeit erhalten?
Eine Möglichkeit besteht darin, direkt neben der Kirche in Dannenberg ein
Geschäft zu mieten.
Doch das ist in dieser Zeit mit vielen Risiken verbunden, zumal ja überhaupt
keine Ersatzteile noch neue Fahrräder zu erhalten sind.
Außerdem ist der Neuanfang in seinem Alter gründlich zu überdenken.
Das in O. gesparte Geld hilft uns zwar bisher über die Runden, schon
deshalb, weil wir, außer den auf Lebensmittelkarten zu erhaltenen Waren,
sowieso nichts kaufen können.
Eine Arbeitsuche in anderen Teilen Deutschlands ist nicht möglich, da ein
Umzug in andere Besatzungszonen und Städte streng verboten ist.
Vielen Flüchtlingen geht es genauso und so hat man viel Zeit, sich mit
anderen Dingen zu beschäftigen.
Im Ort ist ein Gerät aufgetaucht, mit dem man Schnaps brennen kann.
Das ist zwar streng verboten, aber es wird dennoch von Haus zu Haus
weitergereicht, so dass viele Nebenstedter davon profitieren.
Am besten eignet sich die Kartoffel zur Schnapsherstellung.
Eines Tages steht das Destillationsgerät auch bei uns im Zimmer.
Die Herstellungszeiten werden auf die Nacht gelegt, damit niemand etwas
merken soll, vor allem der in Nebenstedt wohnende Gendarm nicht.
Die Nachtstunden werden kräftig genutzt, anzuheizen, und als die ersten
Tropfen aus dem Kühler laufen, werden sie sofort probiert.
Auch nach einiger Zeit lässt sich noch kein Kartoffelfusel abfüllen, weil
die Probenentnahme immer wieder fortgesetzt wird.
Man ist ganz begeistert von dem Schnaps.
Ich kann zwar öfter hören, wie scheußlich das Zeug schmeckt.
Dennoch findet der der Alkohol fleißigen Zuspruch.
Am nächsten Morgen herrscht eine ausgedehnte Katerstimmung und jeder
schwört, diesen Fusel nie mehr anzufassen.
Aber der kann ja auch für Tauschzwecke genutzt werden. In dieser Zeit ist
jede Art von Lebensmittel zum Tauschen geeignet.
Trotz des Brennverbotes kennt fast jeder im Ort diesen Apparat.
Die Brennerei geht so lange gut, bis einer Nachbarin dessen Bedienung nicht
richtig handhabt.
Mit einem lauten Knall fliegt ihr der ganze Brennapparat in die Luft. Dabei
verletzt sie sich die Hand und ist kuriert.
Danach ist dieses Kapitel beendet.
Eine Reparatur dieses ´Kunstwerkes´ ist wohl nicht mehr möglich. Oma ist in
Beziehung zu Schnaps normalerweise Abstinenzlerin. Aber einmal hat es sie
doch erwischt.
Vielleicht wollte sie auch probieren, wie das Zeug schmeckt.
Verständlicherweise kann sie nicht viel vertragen und kommt in eine
euphorische Stimmung.
Es ist der 1. April. Sie will unbedingt mit unserer Wirtin melken gehen. So
ziehen denn beide alkoholbeschwingt über den Deich auf die Wiesen. Als sie
nach längerer Zeit zurückkommen, ist es Frau Ks. Aufmerksamkeit nicht
entgangen, dass die beiden einen Schwips haben. Sie fragt Oma: ´Haben Sie
schon ´mal eine duhne (betrunkene) Frau gesehen´?
Dann fügt sie hinzu, auf der Post läge ein Telegramm für sie, das abgeholt
werden sollte. Oma läuft dort sofort hin und muß feststellen, dass sie
hereingelegt worden ist. Es ist ja der 1. April. Auf dem Rückweg wartet Frau
K. schon gespannt auf Oma und erkundigt sich, ob sie das Telegramm schon
abgeholt habe.
Die ist schlagfertig und bedankt sich sehr für die Mitteilung. Es wäre ein
wichtiges Telegramm gewesen. Verwandte hätten es geschickt. Frau K. ist ganz
perplex und weiß nun nichts zu sagen. Ihr Aprilscherz ist wohl aus ihrer
Sicht nicht gelungen. Die Not, besonders die fehlenden Lebensmittel, machen
sich besonders bei den Großstädtern stark bemerkbar.
Deshalb kommen die Hamburger in Scharen am Ostbahnhof an und begeben sich
mit ihren Rucksäcken ringsum in die Dörfer, um gegen mitgebrachte Ware etwas
zum Essen zu tauschen.
Das nennt sich Kompensieren.
Die Bauern können auf diese Art alles Mögliche erhandeln, und die Geschichte
von dem Bauern, der schon Teppiche im Kuhstall haben soll, ist zwar
übertrieben, aber kommt der Realität sehr nahe.
Allmählich wird es den Nebenstedtern zuviel, wenn diese Leute mit ihren
Rucksäcken auftauchen. Sie verschließen ihre Türen, die bis dahin den ganzen
Tag offen standen. Nun ist schon der Sommer da, und auf den vielen Eichen
des Dorfes haben sich Hunderte von Saatkrähen ihre Nester gebaut und
malträtieren mit ihrem Schreien die Bewohner im Dorf.
Eines Tages erscheint eine Handvoll Männer im Ort. Sie haben vor, dem Lärm
ein Ende zu bereiten. Sie steigen mit ihren Steigeisen wie Akrobaten auf die
Bäume und nehmen die Jungkrähen aus den Nestern. Die Vögel werden in
Kartoffelsäcke gesteckt. Ich kann nur mit der Dorfjugend staunend daneben
stehen und deren artistische Fähigkeiten bewundern. Junge Krähen sollen gut
schmecken, sagen sie.
Sie haben nach einigen Stunden viele Säcke mit zappelndem Inhalt gesammelt,
und niemand aus dem Dorf möchte ihnen ihre Beute streitig machen.
Nach und nach wird jeder mit Nestern bebaute Eichbaum erstiegen, und die
Krähen können noch so mit ihrem Geschrei protestieren, es wird kein Nest
ausgelassen. Nach ein paar Tagen hat das ganze Dorf wieder Ruhe.
Die Krähen sind verschwunden.
Das Gelände rund um B´ Hof ist für uns Kinder, wenn wir aus dem östlichen
Nebenstedt nach Hause wollen, eine Abkürzung, die regelmäßig wahrgenommen
wird. Nun ist dem Bauern das zwar egal, denn er hat uns bisher noch nie
daran gehindert. Er hat jedoch scharfe Hofwächter, vor denen wir gehörigen
Respekt haben.
Es sind dies in dieser Gegend durchaus selten zu sehende Truthähne, die
keine fremden Personen auf Ihrem Bauernhof dulden.
Kaum sind wir durch das stets offene Tor in den Hof getreten, müssen wir
höllisch aufpassen, diesen uns seltsam erscheinenden Teufeln nicht zu
begegnen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Biester schon auf uns
warten, um sich dann mit ihrem Geschrei auf uns zu stürzen.
Da ist nur noch ein eiliger Rückzug vor diesen nicht gerade hübsch
anzusehenden Vögeln möglich. Sie wissen offensichtlich ganz genau, wer auf
diesen Hof gehört, und wer hier nichts zu suchen hat. Dennoch macht es uns
immer wieder Spaß diese Abkürzung zu benutzen, um zu prüfen, ob das
Federvieh immer noch den Hof bewacht.
Das Tauschen von Essig gegen Lebensmittel ist nicht die einzige Möglichkeit,
an Nahrungsmittel zu gelangen.
Die Bauern im Dorf brauchen sich in dieser Beziehung verständlicherweise
nicht anzustrengen. Ihre Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln bereitet
ihnen keine Schwierigkeit.
Da alle sowohl Landwirtschaft, wie auch Viehzucht betreiben, können sie sich
gut selbst versorgen.
Weil sie aber auch nicht ganz frei im Handeln sind, müssen
Schwarzschlachtungen die Eigenversorgung verbessern. Die sind zwar streng
verboten, aber kein Bauer will es einsehen, nicht von dieser Möglichkeit
Gebrauch zu machen.
Schließlich sind es ja seine eigenen Tiere, die er schlachten will. Darum
wird dann regelmäßig irgendein Vieh von der Weide ´gestohlen´, wobei jeder
weiß, wer das Rind oder das Schaf entwendet hat.
Von dem bei K. gestohlenen Schaf hat man das Fell auf dem Dorffriedhof
gefunden. Die Diebe hatten wohl nichts Besseres zu tun, als es nachts dort
zu schlachten.
Selbstverständlich hat der herbeigerufene Dorfgendarm auch keine Erklärung
für diesen Vorgang. Wahrscheinlich ist für ihn auch etwas zum Essen
abgefallen.
Hunger tut ja bekanntlich weh.
Die schlechte Ernährung oder auch mangelnde Hygiene haben es fertig
gebracht, dass die Menschen hier von Geschwüren am ganzen Körper geplagt
werden.
Es gibt kaum jemanden, der nicht unter dicken Geschwüren am ganzen Körper
leidet.
Ich habe besonders viele am Bein erwischt, die sich mit Eiter füllen und
dann schon fast fachmännisch ausgedrückt werden, damit sie besser und
schneller abheilen können. Medikamente sind nicht verfügbar.
Wir gewöhnen uns bald an diese Plage, die monatelang anhält.
C. W. hat ein Riesengeschwulst an der dicken Zehe. Es ist so schmerzhaft,
dass sie den ganzen Tag weint und nicht mehr ein noch aus weiß.
Meine Mutter verspricht ihr zu helfen.
Sie erhitzt eine Nähnadel über einer Kerze und sticht sie in die große
Eiterbeule, die sich schlagartig entleert.
Danach wird der Fuß in lauwarmem Wasser mit Seife gespült, und die Schmerzen
sind schlagartig verschwunden.
C. ist überglücklich.
Jedermann besitzt in dieser Zeit seinen persönlichen Traum vom guten Essen.
Opa träumt öfter von einem Kringel Dämpfwurst, wie wir sie bei uns in
Ostpreußen bezeichneten.
Einmal noch möchte er eine ganze Wurst alleine essen.
Er kann gar nicht verstehen, dass er früher nicht mehr davon genossen hatte
und macht Oma ernsthaft Vorwürfe, dass sie ihm nicht öfter eine solche Wurst
vorgesetzt hätte.
Sie ist daraufhin ganz böse wegen dieses Unsinns und bemerkt, dass er jetzt
trotzdem denselben Hunger spüren würde, auch wenn er damals tausend Würste
verspeist hätte.
Auf irgendeine Art gelingt es Opa ein lebendes Schwein zu ergattern.
Das Problem ist nur, wo man es erstens für den Kopftopf zubereiten kann,
zweitens, wer für diese Tätigkeit in Frage käme und drittens, wie diese
Aktion nicht auffällt.
Eine Fachkraft ist in dieser Zeit jedoch schnell gefunden.
Es ist der Opa H. der gelernter Fleischer ist.
Den Schlachtort zu finden, ist allerdings schon schwieriger. Man kommt mit
unserer Hauswirtin überein, deren Waschküche für die Schlachtung zu
benutzen. Das hat zur Folge, dass die Zahl der Mitwisser nicht gerade
geringer wird.
Der zu dieser Zeit noch im Hause wohnende Herr T. ist zwangsläufig
eingeweiht. Ansonsten verläuft die Schlachtung in der Nacht plangemäß, und
jeder der aktiv Tätigen erhält den ihm zustehenden Anteil.
Der Wohlgeruch, der sich bei diesem Unternehmen auftut, ist auch in der
Nachbarschaft nicht ganz verborgen geblieben.
Es dauert gar nicht lange, als die Hauptbeteiligten, nämlich mein Opa und
die Familie Helm vom Gericht in Lüchow eine Gerichtsvorladung erhalten.
Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, wer uns verraten hat.
Es kommt zur Verhandlung.
Opa H. wird vorgeworfen, als Hauptbeteiligter das Schwein geschlachtet zu
haben.
Der Sohn vom alten H. führt seinen Vater an der Hand in den Gerichtssaal und
zeigt damit dem Richter, dass dieser Mann völlig blind ist und nie in der
Lage wäre, eine Schlachtung vorzunehmen.
Opa H. unterstützt diese Behauptung durch seinen wackeligen unsicheren Gang
vor dem Hüter des Gesetzes.
Die Tat wird von allen bestritten, doch es hilft nichts, unser Opa wird
ebenso, wie die anderen verurteilt, einige Tage in Lüchow abzusitzen.
Als er dann an seinem Termin nach Lüchow abreist, sitzen Oma und meine
Mutter zerknirscht zu Hause herum und lassen sich von T. durch
Mundharmonikaspiel aufheitern. Es dauert eine geraume Zeit, als Opa durch
die Türe wieder hereinspaziert.
Kaum in Lüchow angekommen, so berichtet er, ließ man ihn wieder laufen, weil
die Gefängnisse alle überbesetzt seien. Zufrieden fährt er also wieder nach
Hause.
Da kommt bei uns sofort gute Laune auf.
Eine spätere Belehrung, zu der er von einem Richter vorgeladen werden
sollte, ging dann so aus, dass der Richter meinte, er möge ihm beim nächsten
Mal etwas von dem schwarzgeschlachteten Schwein mitbringen.
Dann durfte Opa ohne weiteres wieder nach Hause gehen.
Als sich später herausstellt, dass der Petzer bei der Polizei der ehrenwerte
Herr T. gewesen ist, hatte dieser sich schon lange aus dem Staub gemacht.
Seine paar armseligen zurückgebliebenen Klamotten holte er auch nicht mehr
ab.
M. W. hatte für diesen Fall die Forke hinter die Tür gestellt, um ihm im
Fall seines Erscheinens damit eine überzuziehen.
In dieser Nachkriegszeit sind nicht nur Futteralien, sondern auch Kleidung
sehr begehrt.
Das muß meine Mutter erfahren, als sie ihre auf der Leine im Garten
aufgehängte Wäsche abnehmen will. Es hängt nichts mehr dort.
Von dem Dieb keine Spur. Einige Tage später, als sie von einem Gang von
Dannenberg zurückkehrt, sieht sie ihre Wäsche im Garten Dorfbewohners
hängen.
Der Gendarm wird gerufen. Das Problem ist nur, dass dieser Herr zufällig
Untermieter im Hause der neuen Wäschebesitzerin ist, und alles verläuft im
Sande.
Bisher ist die Versorgung der Bevölkerung mit Brot noch einigermaßen
zufrieden stellend verlaufen. Das soll sich bald ändern, denn die Bäcker
haben kein Roggenmehl mehr. Weizenmehl gibt es jetzt sowieso nicht, und die
Lage spitzt sich immer mehr zu.
Die Amerikaner haben als Nothilfe Maismehl geschickt, aus dem das Brot
gebacken werden soll. Das optisch gut aussehende goldgelbe Brot zerbröselt
schon beim ersten Schnitt mit dem Messer und schmeckt scheußlich. Für mich
besitzt es einen bitteren Geschmack.
Niemand mag es essen. Nach kurzer Zeit weigern sich die Bäcker, für längere
Zeit mit diesem Mehl Brot zu backen.
Es dauert mehrere Wochen, dann gibt es wieder Roggenbrot in alter Qualität.
Zur Aufbesserung der Fleischrationen, die uns über Lebensmittelmarken nur in
Hundert-Gramm-Portionen zugewiesen werden, wollen wir uns Kaninchen
anschaffen.
Es wird ein Stall mit zwei Buchten auf vier Stützen gebaut und mit einer
senkrechten Holzklappe versehen. Drahtfenster lassen etwas Licht herein. Das
notwendige Heu ist hier auf dem Land schnell besorgt.
Ein Bekannter von uns besorgt mir zwei Kaninchen, die in dieser Zeit nicht
leicht zu erhalten sind. Es ist ein Pärchen, das eine fast weiß mit
schwarzen Punkten und das andere fast schwarz.
Beide Tiere sind sehr groß. Ich beschäftige mich viel mit ihnen. Sie sollen
sich fleißig vermehren.
Die Fütterung ist in der warmen Jahreszeit kein Problem. Sie fressen viel
Gras und Klee oder auch andere Leckereien, wie das Kraut von Mohrrüben.
Eines Morgens, als ich zum Füttern gehe, ist der Stall leer. Man hat die
Kaninchen gestohlen.
Da bin ich sehr traurig. Es war zwar sehr einfach, weil der Stall nicht
abgeschlossen war, dennoch empfinde ich es gemein, meine beiden Tiere zu
klauen.
Wir haben einen gewissen Verdacht, wer der Dieb sei, aber einen Beweis gibt
es nicht.
Die Kaninchen sind weg und wahrscheinlich irgendwo im Kochtopf gelandet.
Für die geplante neue Generation von Kaninchen besorgen wir ein Schloss, das
einen Diebstahl zumindest erschweren soll.
Nach ein paar Tagen erhalte ich ein neues Paar, das mir unsere geplante
Zucht ermöglicht. Der Stall wird nun jeden Abend gut verschlossen. Der
hungrige Dieb lässt sich nicht mehr sehen, d. h. sehen gelassen hat er sich
ja vorher auch nicht.
Nach wenigen Wochen ist der Nachwuchs da.
Es sind zehn kleine nackte Wesen, noch nicht sehr hübsch anzusehen.
Der Vater ist von den Kleinen schon vorher getrennt worden, damit er keinen
Unsinn mit ihnen anstellen kann.
W. sagen mir, dass ich die Jungen nie durchkriegen werde. Die Kleinen würden
oft von der Alten tot gebissen bzw. sterben.
Bei ihren eigenen Kaninchen hätten sie diese Erfahrung gemacht und selten
die Jungen durchbekommen.
Die Geburt der Kleinen wird von deren Mutter schon einige Tage vorbereitet,
indem sie sich Wolle auszupft und sie zu einem Nest zusammenfügt.
Ich gehe fast stündlich zum Stall gucken, was der Nachwuchs macht und werde
durch die junge Mutter daran nicht behindert.
Schon nach wenigen Tagen sehe ich, dass sich die Kleinen gut entwickeln.
Sie sind, wie ihre Eltern, mehr oder weniger grau und sehen schon ganz
putzig aus. Die Tiere sind durch meine tägliche Pflege so zahm, dass ich sie
auch für längere Zeit draußen herumlaufen lassen kann, ohne dass sie
verschwinden. Ich kann sie jederzeit wieder einfangen und in den Stall
setzen.
Kaninchen müssen zwar kein Wasser zum Trinken vorgesetzt bekommen, aber die
Kaninchenmutter bekommt jetzt täglich eine kleine Menge Magermilch, die ja
über Lebensmittelkarten zu erhalten ist.
Bei dem regelmäßigen Freigang der Tiere, wird durch ihre große Anzahl beim
Wiedereinsammeln die Lage manchmal unübersichtlich.
Eines Tages fehlt einer der Mümmelmänner. Auch nach intensivem Suchen ist es
nicht mehr aufzufinden und bleibt für Tage verschwunden.
Tage später entdeckt Oma W. das Langohr an ihrem Gartenzaun. Ich kann den
Ausreißer mühelos wieder einfangen.
Ein Kaninchenexperte zeigt mir, wie ich die Jungtiere schon recht früh als
Weibchen oder Männchen erkennen kann.
Sie werden auf dem Rücken zwischen die Knie geklemmt, der Schwanz wird etwas
weggeschoben und schon ist das Kleine leicht zu identifizieren. So bin ich
für diese Aktion ein großer Spezialist geworden.
Da eine nächste Generation geplant ist, soll der Kochtopf oder die Pfanne
nicht zu kurz kommen, nur wer soll die Schlachtung vornehmen?
Wir finden in Dannenberg jemanden, der uns diese Arbeit abnimmt. Das
ausgesuchte Kaninchen wird in eine Tasche gepackt und zum Schlachter
gebracht, der als Lohn das Fell behält.
Mir fällt dieser Richtgang der armen Tiere immer sehr schwer, doch der
eigenen Hunger und die mangelnde Fleischversorgung überwinden dann mit gutem
Zureden meiner Mutter meine Hemmungen.
Immerhin kann auf diese Weise unsere Ernährung ganz gut aufgebessert werden.
Ich besitze bei der weiterhin folgenden Aufzucht so ein glückliches
Händchen, dass mir nie ein einziges Kleines abhanden kommt.
Die Anzahl der Jungen liegt immer so um neun bis elf Stück.
M. besitzen eine Schäferhündin, die regelmäßig eine große Zahl von Verehrern
aus dem Dorf anlockt.
Auch unser Prinz gehört zu den Werbern.
Er lässt sich durch ihre Größe nicht abhalten, ihr Heiratsangebote zu
machen. Doch hat er gegen seine Konkurrenz, besonders gegen einen großen
schwarzen Hund von K., keine Chancen.
Als er eines Morgens zum Auslaufen hinausgelassen wird, ist er sofort wieder
auf Brautschau und wird von irgendeinem Konkurrenten tot gebissen.
Nun hatte er alle schwierigen Zeiten überlebt gehabt, und muß auf diese Art
sein Leben lassen. Wir sind alle sehr traurig darüber. Er wird vor dem Haus
neben einer Eiche begraben.
Ich pflanze viele Wildblumen auf sein Grab.
Diskussionspartner von meinem Opa, F., ist schwer krank.
Er leidet unter offener Lungentuberkulose und wird in ein spezielles
Krankenhaus, 15 km entfernt, eingeliefert.
Das Gebäude liegt mitten in der Göhrde im Wald sehr isoliert.
Diese Krankheit ist wegen der schlechten Ernährung jetzt recht häufig und
sehr ansteckend.
Viele Menschen leiden an ihr. Eine Heilung ist oft in Frage gestellt.
Die betroffenen Kranken erhalten Sonderrationen zu essen, um auf diese Art
ihre Genesung zu fördern.
Wir fahren dorthin, um ihn zu besuchen. Ich muß als Jugendlicher draußen
bleiben, weil die Ansteckungsgefahr zu groß ist. Ich brauche nicht lange zu
warten, dann müssen auch die anderen Besucher das Krankenhaus verlassen. Die
Besucherzeiten sind hier streng reglementiert.
Oma und Opa wollen ihr Heil im Westen Deutschlands versuchen.
Hier ist keine Arbeit zu erhalten, und sie glauben, auf Dauer in dieser
Gegend keine Zukunft zu haben.
Sie wollen in Richtung Köln abreisen. Dort wohnen Verwandte von uns.
Da, wie schon gesagt, ein Ortswechsel in einen anderen Ort zu dieser Zeit
verboten ist, geben sie sich als aus dem Osten Vertriebene aus. Sie erklären
einfach, dass sie erst jetzt aus Ostpreußen von den Polen ausgewiesen worden
sind.
Das ist durchaus glaubhaft, weil viele Menschen, die in ihrer Heimat
geblieben bzw. nicht mehr fliehen konnten, von den Polen in den Westen
abgeschoben werden.
Meine Mutter und ich sollen hier die Stellung halten und abwarten, wie es
weitergeht.
Nach kurzer Zeit gelangen beide nach Köln und werden in B. G. in ein
Flüchtlingslager eingewiesen.
Es ist ein Gebäude in einer Papierfabrik.
Dort sind sie, wie sie schreiben, mit mehreren Familien in einem großen Raum
mit Betten in zwei Etagen untergebracht, der gleichzeitig als Schlafraum
dient.
Nebenan befindet sich eine große Küche, in der alle gemeinsam ihr Essen
herrichten müssen. Es ist ein Rückschritt, aber die Hoffnung auf eine
vernünftige Wohnung und Arbeit wird nicht aufgegeben. Allerdings sind hier
die Wohnungen noch knapper, als bei uns in Niedersachsen.
Köln ist nämlich total zerstört, und die ausgebombten Einheimischen müssen
auch irgendwo untergebracht werden.
Die Ernährungslage ist dort auch viel schlechter.
Selbst mit Lebensmittelkarten ist manchmal nichts zu erhalten. Da sind beide
froh, dass meine Mutter ihnen ab und zu ein Paket mit Mehl oder Kartoffeln
schickt.
Opa hat bei den Amerikanern in Frankfurt am Main eine Stelle als Aufseher in
einem Gefangenenlager gefunden. Er muß das Lager nachts bewachen, indem er
Rundgänge macht.
Dafür hat er auch eine Waffe erhalten.
Er meint, das schlimmste auf der Welt wäre die Bewachung von Menschen.
Deshalb kann er es nicht lange in Frankfurt aushalten. Außerdem ist die
Trennung von Oma ja auch nicht gerade ideal.
Man weiß überhaupt nicht, wann eine Besserung der Ernährungslage eintreten
wird.
Onkel Fritz, der Bruder von Oma aus Berlin schreibt, dass er mit seiner Frau
Kartoffelschalen isst, um überhaupt etwas in den Magen zu kriegen.
Besonders ältere Leute sind schlecht dran, weil sie nicht die Kraft haben,
sich vielleicht noch etwas auf dem schwarzen Markt zu ergattern.
Dort kann man sich durch Tauschen von Waren, falls man welche hat, mit
lebensnotwendigen Dingen versorgen.
Das ist zwar streng verboten, aber wer will schon hungern. Viele haben aus
ihrem Privatbesitz schon alles verschleudert und besitzen nichts mehr zum
Tauschen.
Das Geld, die Reichsmark, ist zwar nichts mehr Wert, doch wer noch Geld hat,
kann zu stark überhöhten Schwarzmarktpreisen einkaufen. Da kosten ein Pfund
Butter 200 und eine Zigarette 10 Reichsmark.
Man sieht auf vielen öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen sich häufig bückende
Menschen, die Kippensammler.
Sie holen sich aus den Zigarettenresten den Tabak heraus, um neue Zigaretten
zu drehen. Eine sicher, von der hygienischen Seite gesehen, gefährliche
Tätigkeit. Wer weiß schon, wie viele Menschen auf diese Art durch Ansteckung
erkranken.
Auf dem Schwarzmarkt wird Tabak aus diesen Kippen angeboten. Viele Leute
stört dessen Herkunft nicht, weil sie ihre Rauchsucht nicht bändigen können.
Auf Feldern und in Gärten sieht man häufig Tabakpflanzen wachsen. Deren
Blätter werden abgeschnitten und zum Trocknen an die Luft gehängt.
Eigentlich müssen die Blätter im Herbst goldgelb geerntet werden.
Manche Raucher können die Zeit jedoch nicht abwarten und ernten schon das
Grün im Sommer.
Das ist, wie Raucher sagen, ein scheußliches Kraut. Aber so versucht jeder,
auf seine spezielle Art über die Runden zu kommen.
In Berlin ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln katastrophal.
Deshalb kommen Tante Frieda, die Schwester meiner Oma, bei der wir ein paar
Tage auf der Flucht verbracht hatten, mit ihrer Freundin eines Tages zu uns,
um auf dem Land Ware zu tauschen. Es ist eine abenteuerliche Reise.
Sie wohnen im Ostteil der Stadt unter russischer Besatzung und haben dort
nicht viel zu lachen.
Mit vielen Unterbrechungen und verschiedenen Zügen gelangen sie bei
Salzwedel, 40 km südlich von Dannenberg, an die Zonengrenze. Dort ist ein
reger illegaler Grenzverkehr entstanden, da man hier die Elbe nicht als
Grenzfluss vor sich hat.
Bei Nacht wird die Zonengrenze überschritten und der nächste Ort, der einen
Bahnhof hat, muß auf Schusters Rappen erreicht werden. Sie fühlen sich bei
uns noch wie im Schlaraffenland und sind den ganzen Tag unterwegs, um zu
kompensieren.
Abends wird ihre ´Beute´ durchgesehen und man kann erleben, wie zufrieden
Menschen sein können, denen die Möglichkeit gegeben ist, sich satt zu essen.
Ich bin glücklicher Besitzer von ein Paar Stiefeln, die mir jetzt aber durch
Wachsen zu eng geworden sind. A. K. ist ein Stück kleiner als ich, und
deshalb passen sie ihm hervorragend. Mit schwerem Herzen trennen wir uns von
ihnen und tauschen sie bei ´Modder K. gegen Speck und andere Fleisch-und
Wurstwaren um.
Eine weitere Möglichkeit, an Naturalien zu gelangen, ist das Arbeiten bei
den Bauern.
So werden die Kartoffeln hier alle noch mit Hand geerntet. Wenn das
Kartoffel-Kleien losgeht, ist das halbe Dorf auf dem Feld, und man hilft
sich gegenseitig, die begehrten Früchte aus dem Boden zu holen.
Als Lohn gibt es Naturalien. Wir Kinder können hierbei auch schon fleißig
helfen.
Mutter verdingt sich auch beim Holzschlagen, um auf diese Art zu Brennholz
zu gelangen.
Es wird sogar auf einigen Wiesen, weit irgendwo hinter dem Deich, Torf
gestochen.
Der Torf wird auf jede freie Stelle an die Sonne gelegt, um ihn zu trocknen.
Damit dieses möglichst schnell geht, werden die Torfstücke öfter umgedreht.
Die Qualität scheint nicht besonders gut zu sein. Vielleicht ist er auch
noch nicht trocken genug, denn der Erfolg beim Heizen ist nicht sehr
berauschend.
Aber immerhin brennt er doch und entwickelt eine größere Hitze als Holz.
Wir erhalten auf unerwartete Art Brennholz.
Die Engländer schlagen im Gartower Forst große Holzstämme. Sie betrachten
diese Aktion als Wiedergutmachung für die im Krieg von Deutschen
angerichteten Schäden an Mensch und Material im eigenen Land.
Als Beförderungsmittel dienen riesige Tieflader, die in regelmäßigen
Zeitabständen durch Nebenstedt donnern. Das Holz wird zum Ostbahnhof
gefahren, dort auf Güterwagen verladen und dann in Hamburg nach England
verschifft. Diese Aktion dauert Wochen.
Die rechtwinklige Abzweigung in Nebenstedt zum Bahnhof wird von den Fahrern
der Tieflader sehr wagemutig mit hohem Tempo genommen. So kommt es eines
Tages, dass an dieser Stelle ein dicker geschälter Holzstamm auf dem
Tieflader sich aus seiner nicht sehr sorgfältigen angebrachten Befestigung
löst.
Die 200 Meter bis zu unserem Haus wird er noch über die Straße
mitgeschleift, bis er vor der Gartentür auf der anderen Seite in den
Straßengraben plumpst.
Für uns eine willkommene Gabe.
Kaum liegt er da, holen meine Mutter und ich unsere große Säge und beginnen
den Stamm in kleine Stücke zu zerschneiden. Jedes Mal, wenn ein anderer
beladener Wagen vorbei fährt, verstecken wir uns schnell im Haus, um danach
unsere Arbeit fortzusetzen.
Aber das ist wohl gar nicht nötig, denn wer will von den Fahrern den Stamm
wohl wieder aufladen.
Vielleicht sind sie sogar ganz froh, dass die Stämme schnell von der Straße
verschwinden. Es ist keine leichte Arbeit, diese mit einer großen Säge zu
zweit zu zerkleinern, aber nach wenigen Stunden ist das Holz in unserem Hof
verschwunden.
In den nächsten Tagen wird die Beute weiter zerkleinert und mit der Axt
zerhackt, um dann in unseren Stall untergebracht zu werden.
Hierbei erlerne ich das Holzhacken gründlich. Dieses Unternehmen war so
erfolgreich, dass wir jetzt regelmäßig ausschauen, ob sich dieser
erfreuliche Vorgang wiederholt.
Tatsächlich passiert es dann nochmals, dass einige Holzstämme der Kurve zu
unserer Straße nicht standhalten können.
Die Familie H. beteiligt sich nun ebenfalls an der Holzaktion. Natürlich
reichen solche Holzzuteilungen nicht alleine aus, um mit dem Brennmaterial
fürs Kochen und Heizen komplett versorgt zu sein.
Eine von vielen Nebenstedtern genutzte Möglichkeit ist das Sammeln von
Blaubeeren in der Göhrde.
Händisches Pflücken ist vielen zu mühsam und darum wird trotz Verbots ein
Blaubeerkamm verwendet, der den Sammeleffekt vervielfacht.
Diesen Kamm besitzen allerdings nicht alle Nebenstedter und so ist es sehr
schwierig, sich einen auszuleihen. Wird man beim Kämmen vom Förster
erwischt, wird der Kamm schlimmstenfalls konfisziert und wer möchte auf
diese Art sein gutes Stück verlieren.
W. und Frau M. sind im Besitz eines Kammes. Uns gelingt es ab zu, uns einen
tageweise auszuleihen.
Der Flüchtling L. aus Splitau besitzt ein Pferdegespann, das er auf der
Flucht aus Ostpreußen mitgebracht hat.
Er organisiert zuweilen Blaubeerfahrten in Richtung Göhrde. Die Blaubeeren
werden von den Einheimischen als Bickbeeren bezeichnet.
Es dauert mit den Pferden schon eine Weile, bis das Ziel in der Göhrde
erreicht wird.
An guten Stellen im Wald mangelt es nicht. Die Kammsammler sind beim Sammeln
natürlich ständig auf der Hut, sich nicht von plötzlich auftauchenden
Aufsichtspersonen erwischen zu lassen.
Sollte sich ein Fremder sehen lassen, wird das wertvolle Stück sofort
versteckt.
Da beim Sammeln mit dem Kamm auch viele Blätter und unreife Früchte mit in
den Eimer gelangen, müssen die Blaubeeren schon vorher im Wald gut
ausgelesen werden. Man kann sonst auch ohne Beweisstück gut erkennen, ob
jemand nur mit der Hand gesammelt oder sich des Kammes bedient hat. So
fahren die meisten Sammler am Abend mit gefülltem Eimer nach Hause.
Eine weitere Möglichkeit, an Vitamine zu gelangen, ist das Abernten von
Obstbäumen, die an gewissen Landstraßen als Alleebäume gepflanzt worden
sind.
Es weiß eigentlich so niemand recht, wem diese Bäume gehören, bzw. wer die
Äpfel oder Birnen offiziell erntet. Das Abpflücken der Früchte durch
beliebige Leute, kann aber unserer Meinung nach nicht legal sein.
Wir machen uns meistens nachts auf den Weg, um dieser Arbeit nachzugehen.
Auch M. W. ist dabei, obwohl in deren Garten Apfelbäume stehen.
Sie besitzen einen besonders schönen Baum, der Prinzäpfel mit
ausgezeichnetem Geschmack trägt.
Eine gut geeignete und etwas abseits gelegene Obstallee ist die Straße von
Seybruch nach Damnatz.
Dennoch kommt auch zu dieser Zeit manchmal ein einsamer Radfahrer vorbei,
dem man dann irgendwelche nicht glaubhafte Tätigkeiten vorgaukeln muß.
Vielleicht hat er auf seiner nächtlichen Radfahrt ähnliche Absichten gehegt.
Ein bäuerliches Fuhrwerk ist schon von weiten auszumachen und es gelingt
immer, ein geeignetes Versteck aufzusuchen.
Der Sommer 1945 ist, nach dem strengen Winter, den wir auf der Flucht erlebt
haben, sehr sonnenreich und warm.
Wir haben nach der Schule viel Zeit, um baden zu gehen.
Es sind zwar keine Seen vorhanden, dafür liegen die Bracks nicht weit von
uns entfernt.
Soll der Weg kurz sein, wird das Brack von K. angesteuert. Es ist kreisrund
und mit seinen etwa 25 Metern Durchmesser nicht gerade groß. Dafür fällt der
Boden am Rand sehr steil ab.
Das Gewässer hat eine respektable Wassertiefe. Besonders Nichtschwimmer
müssen darauf achten. Das Brack soll etwa 15 Meter tief sein.
Mir ist das Schwimmen in diesem Teich immer etwas unheimlich.
Die bessere Badegelegenheit ist das größte Brack in der Nähe kurz vor
Dannenberg. Es ist inoffiziell die Dannenberger Badeanstalt und in zehn
Minuten zu erreichen.
Wir verbringen nach der Schule viele Tage am Wasser. Meine Fähigkeiten im
Schwimmen nehmen von Tag zu Tag zu.
Dann gibt es da noch die Jeetzel, die aber nicht an allen Stellen wegen der
Wassertiefe zum Schwimmen geeignet ist.
Der Lehrer Schaal, der uns Sportunterricht erteilt, will eines Tages eine
Freischwimmerprüfung vornehmen. Wir laufen die Jeetzel Richtung Süden
entlang, bis wir eine einigermaßen geeignete Badestelle finden. Die
Schwimmer werden ins Wasser gescheucht und die Zeit wird genommen. Schon
bald entdecke ich einige Stellen im Fluss, die leicht mit den Füßen zu
erreichen sind. Ab und zu wird diese Tatsache etwas genutzt, um das
´Schwimmen´ zu erleichtern. Seitdem besitze ich das Freischwimmerzeugnis.
Ich werde es später auch legal verdient haben.
Der Nachbar K. hat einen landwirtschaftlichen Gehilfen, hier Knecht genannt.
Er heißt Erwin, hat durch Kriegsereignisse seine Eltern verloren und ist
noch keine 20 Jahre alt. Er hat es sehr gut bei dieser Familie und wird fast
wie ein Sohn gehalten. Sein Kennzeichen ist eine grüne Schiebermütze, die
auf seinem Kopf angewachsen scheint.
Er steht eines Tages an der Straße und zeigt uns Kindern einen Uhu, den er
auf dem Dachboden des Bauernhofs gefunden hat. Der Vogel muß noch sehr jung
sein, denn er ist anscheinend handzahm.
Wir stehen vor Erwin und haben solch einen Uhu noch nie gesehen. Erwin kommt
uns wie ein Dompteur vor.
Er ist bei uns Kindern sehr beliebt, weil er immer freundlich ist und viel
lacht.
K. besitzt ein Feld in der Nähe der Elbe, und wenn Erwin bei der Arbeit so
richtig geschwitzt hat, geht er danach in der Elbe baden. Er kann nicht
schwimmen, deshalb sind für ihn diese Abkühlungen nicht ungefährlich.
Nach einem schönen Sommertag erfahren wir, dass Erwin in der Elbe ertrunken
ist. Wir sind alle sehr traurig darüber, besonders die Familie K. hat es
sehr getroffen. Offensichtlich hatten sie Erwin nach dieser kurzen Zeit sehr
ins Herz geschlossen. Seitdem haben wir vor der Elbe großen Respekt und sie
kommt für uns als Badegelegenheit nun erst recht nicht in Frage.
Die Herbsttage sind nun bald eingekehrt.
Die Kornfelder, die mit Kornblumen so geschmückt sind, dass die blaue Farbe
in dem goldenen Gelb der reifen Ähren fast dominiert, werden bald abgemäht.
Auch der rote Mohn leuchtet an vielen Stellen im Feld. Dazwischen wächst
auch noch die weiß blühende Kamille.
Der Boden eignet sich offensichtlich nur für Roggen, Gerste und Hafer.
Weizen wird normalerweise nicht ausgesät.
Das Pflücken von Kornblumen ist eine Lieblingsbeschäftigung von uns Kindern.
Dabei haben wir uns etwas ausgedacht, das die Kornblumen besonders schön
aussehen lässt.
Es werden nur die Blüten am Stängel gelassen, alle anderen Teile der Blume
werden abgestreift. Die so gepflückten Blumen werden an den Blüten im Strauß
dicht gebunden.
Hat man dann eine große Menge von Kornblumen beisammen, ist der Strauß
tellergroß und leuchtet intensiv blau. Außerdem duftet er stark, was man bei
einer einzelnen Blume gar nicht so riechen kann.
Beim Pflücken der Kornblumen habe ich entdeckt, dass es sehr selten
farbliche Abarten gibt, die entweder rötlich oder weiß blühen. Ich verbringe
Stunden damit, diese Blüten zu suchen und kenne schon bestimmte Kornfelder,
in denen diese Suche besonders erfolgreich ist.
Hinter dem Deich in den Eichenwäldern wachsen viele rote Pilze, die hier
niemand kennt. Die uns bekannten Pilzarten, besonders Pfifferlinge sind dort
nicht zu finden. Hinter Splitau gibt es einen großen Nadelwald und meine
Mutter und ich marschieren dorthin, um uns nach bekannten essbaren Pilzarten
umzusehen.
Es ist ein längerer Weg zu den Pilzstellen. Ein Stück hinter Splitau geht es
über einen Feldweg links in einen großen Wald hinein. Hinter Splitau kommen
die Orte Klein - und Groß Gusborn, dahinter der Ort Gorleben, der nicht weit
entfernt mit einem riesigen Wald umgeben ist.
Dorthin kann man allerdings nicht zu Fuß gelangen, und die Räder alleine im
Wald zurücklassen, wagen wir uns nicht, weil sie schnell Beine kriegen
könnten. Zwar wäre weiter weg die Ausbeute dort sicher noch besser, aber das
Risiko hinsichtlich unserer Fahrräder ist uns zu groß.
In der Tat finden wir hier auch in Splitau einige essbare Sorten, wie
Butterpilze, Birkenpilze, Maronen und sogar einige Steinpilze. Die Wälder
sind mit flachen unbewachsenen Gängen durchzogen, die wohl die Verbreitung
von Feuer verhindern sollen. An einer solchen Vertiefung finden wir einen
ganze Steinpilzkolonie und haben auf diese Art schnell eine gut schmeckende
Mahlzeit zusammen. Das ermutigt uns, weitere Pilzausflüge zu unternehmen.
Der Schulbetrieb hat sich jetzt weitgehend normalisiert.
Herr Lohmann ist durch einen jungen Lehrer, namens Busse, ersetzt worden und
kann wieder seinen verdienten Ruhestand antreten.
Busse ist ein großer stämmiger Mann mit schon etwas lichten dunklen Haaren
und einer Brille.
Er ist unser Klassenlehrer. Außerdem haben wir einen weiteren Lehrer, der
noch jünger ist.
Herr Busse besitzt zwei Seiten seiner Seele. Er ist einerseits sehr
freundlich, und zum anderen benutzt er den Stock recht fleißig, indem er den
Betroffenen auf den Bauch über die Schulbank legt und auf dessen
Allerwertesten einschlägt. Das erinnert mich stark an Wilhelm Busch. Das
unternimmt er sehr ausgiebig, denn die Spitze seines Stocks ist schon arg
zersplittert.
Vielleicht ist es manchmal auch nötig. Der Mitschüler T. will sich nach der
Pause auf seinen Platz setzen, als sein Vordermann ihm kurz vorher einen
langen Nagel senkrecht unter den Allerwertesten stellt.
Der arme Kerl brüllt fürchterlich auf und danach wird der Schuldige auf oben
beschriebene Weise ordentlich durchgewalkt. Ist der Geprügelte auch noch ein
Flüchtlingskind schreit Busse dann noch während seiner Hauorgie ständig:
´Du verdammter Ostländer ´.
Das hört sich insofern komisch an, weil er selbst gerade aus dem Osten
geflüchtet ist.
Vielleicht ist das sein besonderer Humor. Merkwürdigerweise ist Busse
dennoch bei uns Schülern ganz beliebt. Sein Unterricht besteht aus vielem
Auswendiglernen von Texten aus dem Lesebuch. Wir müssen dann beispielsweise
auf folgende Art Lesen:
‘Mein Ohm, Komma, der Knierutscher Jochen, Komma, war ein Mann, Komma, der
alles glaubte, Komma, nur nicht das Natürliche. Punkt.
Das wenige von Menschenwerken, Komma, das er begreifen konnte, Komma, war
ihm Hexerei und Teufelsspuk. Punkt´.
Als der Ohm dann die erste Eisenbahn erblickt, ruft er:
´Jessas, da hängen ja ganze Häuser dran´.
Es handelt sich hier um die Erzählung von Peter Rosegger:
´Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß´.
Durch diese ständig sich wiederholende Leserei prägt sich jede Geschichte
gut bei uns ein, jedenfalls den meisten Mitschülern. Diese hat sich bei mir
ebenfalls in meinem Gedächtnis festgesetzt.
Eine weitere Schreibregel wird im Unterricht, besonders bei deren
Nichtbeachtung bis zum Umfallen wiederholt. Schreibt jemand zum Beispiel
´spazieren´ ohne IE, sondern nur mit I, dann ruft die ganze Klasse monoton:
´Alle IEREN mit IE, alle IEREN mit IE, alle ...´
Der Unterricht scheint mir trotz aller Besonderheiten unseres Klassenlehrers
gut zu bekommen, denn ich schreibe meine erste Eins im Leben und bin sehr
stolz darauf.
Das Schulfach Heimatkunde nimmt hier einen wichtigen Platz im Unterricht
ein. Es werden viele Sagen und unheimliche Geschichten aus der unmittelbaren
Umgebung vorgelesen.
Dieses resultiert wahrscheinlich auch aus der Landschaft, die
verhältnismäßig dünn besiedelt ist. Der Kreis Dannenberg ist der am dünnsten
bewohnte Landstrich in den drei Westzonen, die jetzt von Amerika, England
und Frankreich gegründet worden sind.
Die Ostzone der Russen umschließt unseren Landkreis so, dass 75 Prozent der
Kreisgrenze Zonengrenze sind. Das Land ähnelt fast einer Exklave, man kann
es nur in Richtung Westen verlassen.
Wenn wir Kinder den Deich in Nebenstedt Richtung Lüchow überqueren, können
wir lange laufen oder mit dem Fahrrad fahren, ohne ein einziges Haus zu
sehen.
Die mit großen Steinen gepflasterte schmale Straße erschwert das Radfahren.
Einige Kilometer hinter dem Deich gibt es zum Teil nur noch unbefestigte
Sandwege, die von Weiden und kleineren Bäumen umsäumt sind. Bebaute Felder
sind hier kaum zu erblicken, weil durch das fast jährliche Hochwasser die
Gegend total überflutet wird.
Es ist eine Ecke, die sich nicht alleine durch ihre Einsamkeit, sondern auch
durch ihre ausgeprägte Landschaft reizvoll zeigt.
Die drei Töchter von M. kennen schaurige Spukgeschichten, die sich in dieser
Region abgespielt haben sollen. Deshalb kommt uns die ganze Gegend etwas
unheimlich vor.
Gerade hier kann man jedoch im Herbst die schönen Rohrkolben finden, die
sich in halb zugewachsenen Tümpeln auffinden lassen und zu denen man nur
durch zugewachsenes Dickicht gelangen kann. In den Sträuchern hängen noch
die vom letzten Hochwasser angeschwemmten Pflanzen und Äste, manchmal auch
Holzstücke.
Das sieht gespenstisch aus.
Läuft man den Deich weiter in Richtung Splitau scheint auf dessen Außenseite
die Welt ganz vergessen zu sein. Dichte Eichenwälder mit dickem Gestrüpp
scheinen niemandem zu gehören. Hierhin verirrt sich kein Bauer.
Frau W. hat ein Buch, das sich das 7. Buch Moses nennt, und in dem viele
unheimliche Geschichten stehen. Es wimmelt darin von Luft,Wald-und
Wassergeistern.
Wenn ich diese Ecke mit W. F. und A. K. durchstreife, kommen mir diese
Geschichten in den Sinn. Alleine ist es mir dort zu unheimlich.
Im Dorf hat sich eine neue Freizeitbeschäftigung breit gemacht.
Meine Mutter kennt zwei Frauen, die in Dannenberg wohnen und ebenfalls aus
O. stammen. Es sind Geschwister, die M. und G. S. heißen.
G. ist 18 Jahre jünger, als ihre Schwester und so nimmt M. mehr oder weniger
die Mutterstelle gegenüber ihrer Schwester ein.
M. ist schon weißhaarig und hat ihre Haare nach hinten streng zu einem Dutt
zusammengebunden. Sie ist recht hager und hat eine spitze Hakennase.
Beide wohnen in einem Siedlungshaus in Dannenberg im Dachzimmer und müssen
sich in dieser Zeit recht und schlecht durchs Leben schlagen. Da sie nicht
sehr lebenstüchtig zu sein scheinen, sieht es auch mit ihrer
Lebensmittelversorgung nicht sehr vorteilhaft aus. Sie sind daher immer sehr
dankbar, sich etwas Essbares auf dem Land ergattern zu können.
Eine hierfür attraktive Tätigkeit scheinen sie gut zu beherrschen, nämlich
das ´Tisch-Rücken´.
Die Menschen sind in dieser Zeit hierfür sehr empfänglich.
Vorbedingung dieser Geisterbeschwörung ist ein dreibeiniger Holztisch, in
dem keine Nägel eingeschlagen sein dürfen. Nur mit dieser Ausrüstung kann
man den Tischgeist herbeirufen und ihn mit den auf dem Herzen liegenden
Fragen überschütten, sagt M.
Die Familie K. verfügt über einen solchen großen Tisch.
Man ist an solch einer Sitzung sehr interessiert und stellt den Tisch dafür
im Wohnzimmer zur Verfügung.
Um ihn herum sitzen eines Abends M. und G., die Bauernfamilie mit Bekannten
und auch meine Mutter.
Deren Magd und ich dürfen bei der Geisterbeschwörung zusehen.
Das Licht wird gelöscht und einige Kerzen werden angezündet.
Die Teilnehmer legen im Kreis die Hände auf die Tischplatte, so dass sie
sich an Daumen und kleinen Fingern des jeweiligen Nachbarn berühren. Nach
einer angemessenen Zeit der Aufwärmphase des Tisches fragt M.:
‘Tischchen, bist du da, dann verbeuge dich einmal tief´.
Das scheint aber nicht sofort zu gelingen, so wird die Frage wiederholt.
´Der Tisch muss erst warm sein´,
erklärt M.
Die Teilnehmer werden ermahnt, ernsthaft zu bleiben und ihre Hände locker
auf den Tisch zu legen. Nach nochmaligem Ersuchen an den Tisch, sich zu
verbeugen, fängt der Tisch sich an zu bewegen und führt eine tiefe
Verbeugung aus.
Alle sind ganz fasziniert von diesem Vorgang, und ich bin als Zuschauer
dieses ´Hokuspokus´ ebenfalls sehr beeindruckt.
Jetzt werden die Bedingungen der Sitzung dem Tisch mitgeteilt:
´Tischchen, wenn du ja sagen willst, klopfe einmal, bei nein dreimal auf den
Boden´.
Sofort beginnt der Tisch zur Bestätigung einmal zu klopfen in dem er sich
mit einer Seite kurz anhebt.
Man vereinbart nun Fragen, die M. dem Tisch stellen soll.
Frau K. will wissen, ob ihr im Krieg vermisster Sohn noch lebt. Das
Tischchen klopft einmal. Wie viel Kilometer ist er von Nebenstedt entfernt?
Das Tischchen fängt an zu klopfen. Nachdem es fünf Minuten unaufhörlich
geklopft hat, kommt man zu dem Schluss, dass der Sohn sehr weit weg in
Kriegsgefangenschaft leben muß, vielleicht in Sibirien, und M. bittet, mit
dem Klopfen aufzuhören.
Die Bekannte von K. will wissen, ob ihr Freund sie noch lieben würde. Das
Tischchen beantwortet die Frage prompt positiv.
Die Flüchtlinge am Tisch stellen Fragen, die sich auf die Länge ihrer Bleibe
in der Fremde beziehen und wie viel Jahre es noch dauert, bis sie nach Hause
zurückkehren können.
Auch diese Fragen werden vom Tisch beantwortet.
Es gibt jedoch auch Zweifler unter den Angehörigen, die glauben, dass der
Tisch von einem Sitzungsteilnehmer bewegt werde.
M. kann sie jedoch davon überzeugen, dass ihre Hände immer etwas über dem
Tisch schweben, und sie den Tisch nicht manipuliert. Sie unterstreicht die
Seriosität ihrer Behauptung, indem sie sich zeitweise vom Tisch wegsetzt.
Der Abend wird ein voller Erfolg und es spricht sich sehr schnell rund,
welche neuen Möglichkeiten sich bieten, Antworten auf bisher unbeantwortete
Fragen zu erhalten.
G. und M. können ihre Nahrungsmittel auf diese Weise aufbessern.
Da wir auch einen kleinen dreibeinigen Holztisch besitzen, der transportabel
ist, kann die Tischchenbefragung mobil gestaltet werden und erfreut sich
zunehmender Beliebtheit.
Eines Tages wollen wir Kuchen backen, und M. will das Tischchen befragen,
wie viel Eier Oma W. uns für den Kuchen geben wird. Das Tischchen klopft ein
Mal, und nach einer Weile bewegt es sich dann noch ein Mal.
Danach erhalten wir von der Oma nur ein Ei.
Also hat das Tischchen gelogen, glauben wir.
Nach wenigen Minuten kommt die Oma zu uns herein und bringt uns dann noch
ein zweites Ei.
Na also, wer will nun noch an der Glaubwürdigkeit des Tisches zweifeln?
Eine weitere beliebte Beschäftigung ist das Kartenlesen, auf das sich meine
Mutter spezialisiert hat. Auch das erweist sich als einträgliches Geschäft.
M. muß nach dem einzigen Schaf, das ihnen gehört, sehen. Es ist mit anderen
Schafen in einem Gatter hinter dem Deich eingesperrt.
Dort bleiben die Schafe unbeaufsichtigt, und man sieht nur ab und zu nach
ihnen.
Sie steigt dort über den Zaun, um sich etwas näher mit dem Tier zu befassen.
Dabei bemerkt sie gar nicht, dass sie von einem großen Schafbock angegriffen
wird, der in hohem Tempo mit gesenktem Kopf auf sie zu rennt. Erst im
letzten Moment erblickt sie ihn und kann sich mit einem Sprung über den Zaun
retten.
Sie ist ganz mitgenommen davon, und jammert meiner Mutter vor, was ihr alles
hätte passieren können. Der Schafbock wäre in der Lage gewesen, sie zu
töten.
Bei diesem Gedanken lebt sie allerdings wieder auf, denn sie stellt sich
vor, was sie dann für ein schönes Begräbnis erhielte.
Die Dorfbewohner wären weinend hinter ihrem Sarg hergezogen, und hätten
gesagt, was sie doch für ein prächtiger Mensch gewesen sei.
Niemand im Dorf, hätten sie M. gelobt, habe so gut das Heu auf den Wagen
gestapelt, wie sie.
Und was war M. doch für eine fleißige Frau gewesen. Sie begeistert sich so
über ihr eigenes Begräbnis, dass sie ganz vergisst, dass sie ja nur in ihrer
Phantasie im Sarg liegt.
Die Tanzveranstaltungen sind so die einzige Abwechslung in dieser dörflichen
Umgebung.
Das Tanzen wird hier besonders großgeschrieben. Schon die Kinder ab zehn
Jahren gehen regelmäßig zum Kindertanz. Der ist fast schon Pflicht, und es
kommt mir so vor, dass den Protestanten hier dieses Vergnügen wichtiger als
Konfirmation oder Taufe ist.
Ich soll mich auch diesem Spaß hingeben, kann mich jedoch bis jetzt davor
drücken. Da müßte man mich schon fesseln und mit Gewalt hinbringen.
In der Nähe wohnt der Bauer B.
Seine Frau stammt aus dem Wendland, einer Gegend um Lüchow herum, in der
ganze Dörfer mit Wenden besiedelt worden sind. Sie ist recht groß und sehr
hager und bekannt dafür, viel und hart zu arbeiten. Diese Leute sind einigen
Nebenstedtern nicht ganz geheuer. Sie glauben allen Wendländern nicht ganz
trauen zu können.
Vielleicht liegt das auch an ihrer besonderen Sprache. Wenn sie mit ihren
Verwandten wendländisch spricht, kann sie angeblich niemand verstehen.
Herr F. ist im Krankenhaus an seiner schweren TBC gestorben. Auch die dort
bessere Ernährung hat ihm nicht geholfen. Er hatte Pläne gehabt, irgendwann
nach Rosenheim in Bayern zu ziehen. Dort wohnen Verwandte von ihm.
Dabei wollte er Opa überreden, mit nach Bayern zu gehen. Mit diesem Plan ist
es für F. nun vorbei.
Tochter R. wird für zwei Wochen zu diesen Verwandten geschickt, was in
dieser Zeit äußerst ungewöhnlich ist. Sie kommt danach ganz begeistert
wieder zurück und scheint nur noch mit bayerischem Akzent sprechen zu
können.
Aus ´nein´ wird ´na´, und ´kein´ heißt ´koa´.
Sie braucht einige Zeit, um sich das ´Bayerische ´ abzugewöhnen. So schnell
kann man eine andere Sprache lernen.
Die Gemeinde Nebenstedt hat 1946 beschlossen, allen Flüchtlingen ein
Gartenstück zur Verfügung zu stellen. Sie hat einen Streifen Land
ausgewählt, der am Ortseingang an einem Feldweg rechts vor Ls. Haus liegt,
direkt dem Dorffriedhof gegenüber.
Der Landstreifen ist etwa 100 Meter lang und 10 Meter breit. Wir erhalten
den letzten Abschnitt, eine Fläche von etwa 10 mal 10 Metern.
Diese Maßnahme hilft uns sehr, unseren Bedarf an Gemüse und Salat aus
eigener Ernte zu decken. Wir setzen Bohnen und Erbsen, Radieschen und
Mohrrüben.
Die Wasserversorgung ist durch das nahe Brack von K. gewährleistet. So
verbringen wir ein Teil der Zeit auf unserem Gartenstück.
Obwohl wir bisher ja nie einen Garten gehabt haben, klappt es mit dem
Gemüseanbau recht gut. Wir haben ja auch schon bei im Hausgarten etwas üben
können.
Neben unserem Garten liegt ein großes Feld, das in diesem Jahr mit Mohn
bepflanzt ist. Für diese Gegend ganz etwas Neues.
Die Blüten des Feldes besitzen eine hellrosa bis hellviolette Farbe. Der
Bauer, der dieses Feld bestellt, ist neu in diesem Dorf. Er hat den Hof von
einem hiesigen Bauern übernommen.
Man hält nicht viel von seinen neuen Anbaumethoden. Der Mohn auf dem Feld
scheint jedoch gut zu gedeihen.
Nachdem die Blütenblätter abgefallen sind, bilden sich bald grüne
Samenköpfe, die sehr schnell wachsen und im Spätsommer eine braune Farbe
annehmen.
Das ist die Zeit, in der wir anfangen, den Mohn auf seine Reife zu testen.
Die Körnchen, die am Anfang noch weiß und milchig sind, nehmen allmählich
eine dunklere Farbe an, und endlich können wir ein Rasseln der Körner beim
Schütteln der Mohnköpfe vernehmen.
Wir Kinder gehen öfter zu dem Mohnfeld, um unsere eigene Ernte zu halten.
Der Badegang nach Dannenberg führt nun regelmäßig über den Deich am Mohn
vorbei. Der Mohn schmeckt nach einigem Kauen herrlich süß und ist eine gute
Abwechslung unserer kargen Speisekarte.
Die vielen leeren Mohnkapseln auf dem Deichweg bis nach Dannenberg zeugen
von unserem guten Appetit.
Bei unserer Gartenarbeit schleiche ich mich auf allen Vieren in das
Mohnfeld, um die Mohnköpfe im Hocken abzuknicken. Auf diese Art haben wir
bald eine Menge Mohn zusammen, um für die nächste Zeit Mohnkuchen backen zu
können. Der dunkle Mohn wird in einem weißen selbst genähten Leinensäckchen
aufbewahrt.
Den Bauern scheinen unsere Sammelaktionen nicht sehr zu stören.
Es ist aber auch kaum zu merken, dass sein Feld von vielen Menschen
abgeerntet wird. Mit der Haupternte lässt er sich viel Zeit, als wollte er
uns noch einige Tage ungestört Mohnköpfe pflücken lassen.
In dieser Zeit können C. W. und ich besonders gut und lange schlafen. Wir
gehen schon früh zu Bett und pennen in den Tag hinein. Es sind zwar Ferien,
aber es ist unseren Müttern unheimlich.
Erst als irgendjemand über die Herstellung von Rauschgift aus Mohn
berichtet, zwar im Rohzustand der Mohnkörner, geht uns ein Licht auf, wieso
wir immer so müde sind. Auch die reifen Mohnkörner scheinen nicht ganz ihre
Wirkung zu verlieren, besonders wenn man sie pfundweise zu sich nimmt.
Eine weitere Beschaffung von zusätzlichen Lebensmitteln ist die Herstellung
von Rübenkraut. In dieser ländlichen Gegend wächst die Runkelrübe auf vielen
Feldern und dient der Viehfütterung. Darum ist das Auspressen von Rübensaft
nur eine Zeitfrage.
Die erste Produktion erlebe ich bei dem Bauern K.
Der Saft wird in einen großen Kessel in der Waschküche eingefüllt. Der
Kessel wird über Stunden mächtig aufgeheizt, und sein Inhalt immer wieder
durch Rühren bewegt.
Frau K. steht während der ganzen Zeit in der Küche und lässt das Feuer nicht
aus den Augen. Immer wieder muß fleißig Holz nachgelegt werden. Ab und zu,
wenn sie den Raum verlassen muß, darf ich auch einmal den immer dicker
werdenden Saft umrühren.
Nachdem die meiste Flüssigkeit verdampft ist, kann das Kraut endlich aus dem
Kessel geholt werden. Durch Probieren wird geprüft, ob der Eindickvorgang
beendet werden kann. Eine bestimmte Restmenge verbleibt im Kochgefäß und
wird durch weiteres Heizen zu Karamellbonbons verarbeitet. Das Auskratzen
des Kessels darf ich dann vornehmen.
Mit kleineren Mengen wird dieser Vorgang auch bei uns zu Hause ausprobiert.
Zur Karamellherstellung reicht dann allerdings unsere Bratpfanne aus.
Wurst und Fleischwaren sind Mangelware, und es ist erstaunlich, mit welchem
Erfindergeist die Menschen versuchen, Ersatz für fehlende Waren zu
beschaffen.
Die tollsten Rezepte werden ausgetauscht, von denen man sich Wunderdinge
erhofft.
Da gibt es Beschreibungen zum Erstellen von künstlicher Leberwurst oder von
Bohnenkaffee, der aus Lupinen hergestellt wird.
Selbstverständlich wird alles einmal ausprobiert, doch bleiben die Erfolge
hinter den Erwartungen nach der Fertigstellung zurück. Die Originale
schmecken doch immer noch am Besten.
Sofern es die Vorräte zulassen, wird ab und zu gebacken. Meine Mutter hat
eine Mehlquelle bei einem Müller in Streets entdeckt, zu dem wir ab und zu
hinlaufen und mit etwas Glück einige Pfund Mehl erhalten.
Aus dem Mehl und dem Rübenkraut lässt sich ein gut schmeckender Kuchen
backen, der sich bei mir großer Beliebtheit erfreut.
Die Einheimischen backen einen uns unbekannten Kuchen, den ´Bodderkouk´,
also Butterkuchen. Der Teig, extrem dünn ausgewalzt, wird mit Zucker
überstreut, und erhält in regelmäßigen Abständen kleine Butterklümpchen auf
seine Oberfläche.
Damit sich das Backen lohnt, werden viele Kuchenbleche vorbereitet.
Wir erleben den ersten Backtag bei W. und auch die Nachbarn beteiligen sich
daran.
W. haben eine Backstube in dem Stallgebäude, in der sich ein großer Backofen
befindet. Eine Eisentür gibt den eigentlichen Backraum im Ofen frei. Dieser
wird mit viel trockenem Reiser aufgefüllt. Immer wieder werden nach dem
Anheizen trockene Äste in den Ofen nachgeschoben, bis der Ofen eine immense
Hitze abgibt.
Wie der Kuchen diese Hitze überstehen soll, ist uns schleierhaft.
Die Aschereste werden sorgfältig vor dem Backen entfernt. Frau W. schiebt
mit einem eisernen Werkzeug danach die ersten Kuchenbleche hinein und
schließt die Ofentür.
Es vergehen nur wenige Minuten, bis der Ofen geöffnet wird, und die
Kuchenbleche herausgeholt werden. Die Kuchen sind tatsächlich goldbraun
gebacken, nicht verbrannt, und schmecken nach der ersten Probe hervorragend.
Besonders die Stellen mit der aufgetragenen Butter haben es mir angetan.
Jetzt weiß ich auch, wieso der Kuchen ´Bodderkouk´ heißt.
Nach dem Herausziehen des Kuchens aus dem Ofen, kommt die nächste Reihe von
Kuchenblechen, die schon vorbereitet auf einem Tisch gestanden hat, in den
Ofen. Das alles geht blitzschnell, weil der Ofen sich in kurzer Zeit wieder
abkühlen wird.
Ehe wir es so richtig begreifen ist der Backvorgang beendet.
Das Brot, das es hier in den Geschäften zu kaufen gibt, ist aus Hefeteig
hergestellt. Da wir in Ostpreußen Sauerteigbrot gegessen haben, müssen wir
uns erst an den Geschmack gewöhnen.
Die Brote gibt es natürlich nur auf Lebensmittelmarken in drei Größen zu
kaufen: Drei -, Sechs - und Siebenpfundbrote.
Ich gehe die Brote bei einem Sohn von Herrn H. kaufen, der eine
Bäckertochter in Dannenberg geheiratet hat.
Da wir nie wissen, ob es am nächsten Tag noch Brot gibt, werden alle noch
vorhandenen Lebensmittelkartenabschnitte auf einmal gegen Brot abgegeben.
Das nicht immer durch längere Lagerung ganz frische Brot stört uns nicht so
sehr. Es schmeckt auch so ganz gut.
Der Winter 1946/47 ist angebrochen.
Er erinnert uns mit seiner Strenge an Ostpreußen. Plötzlich kommen sehr
harte Frosttage und überraschen die Bevölkerung mit nicht vorhersehbaren
Kältegraden. Sowohl Einheimische, als auch Flüchtlinge werden diesmal davon
betroffen. Man hat nämlich nicht berücksichtigt, dass die Kartoffelmieten zu
wenig gegen Frost isoliert wurden.
Zu tief darf eine Miete nicht werden, weil das Grundwasser im Frühjahr
schnell die Kartoffeln erreichen kann.
Aber auch die Aufschüttungen waren bei vielen Mieten zu gering, so dass die
Kartoffeln durch den Frost ungenießbar geworden sind. 40 Zentimeter Erde auf
der Miete, von denen man glaubte, sie würden reichen, sind zu wenig. Die
Kartoffeln schmecken widerlich süß und niemand, außer den Schweinen will sie
essen.
Auch wir sind von dieser Misere betroffen, denn alle unsere Kartoffeln sind
verdorben. Die Kartoffel ist aber nun zu dieser Zeit unser
Hauptnahrungsmittel.
Als Frau K. dieses erfährt, bietet sie uns an, unsere Kartoffeln gegen gute
Exemplare zu tauschen. Sie sagt, den Schweinen, denen sie alle verfüttern
will, wäre es sowieso egal, was sie fräßen. Sie habe noch genügend gute
Kartoffeln.
Nun gehe ich regelmäßig zum Kartoffeltauschen zu K. Die gefrorenen Exemplare
tauen wir vorher nicht auf, weil sie dann zermatschen. Wir finden die
angebotene Umtauschaktion sehr nobel von ihr.
Bei diesem Frost ist das Heizen mit dem Ofen nicht mehr sehr effektiv. Der
kalte Ostwind pfeift über Bs. freies Feld direkt auf unser ungeschütztes
Haus und durch die nicht sehr dichten Wände.
Doppelfenster sind hier nicht bekannt. Wir legen über alle Fensterritzen
Tücher und Decken, um wenigstens etwas die Kälte abzuhalten.
Im Sommer ist genügend Heizmaterial besorgt worden, so dass wir daran nicht
sparen müssen.
Wegen des allgemein knappen Heizmaterials haben sich Ofenbauer etwas
Spezielles ausgedacht, um beim Kochen Holz oder Briketts zu sparen.
Das Ding nennt sich Kochhexe und soll vom Namen her andeuten, dass es hexen
kann. Es ist ein winzig kleiner Herd der auf die offene Platte eines Herdes
oder Ofens gestellt wird. Der Brennraum ist klein und zieht in den unteren
Herd ab. Die Kochhexe hat nur eine Kochplatte und kann mit kleinen
Holzstücken beschickt werden. Es ist klar, dass man hier keine Wunder
erwarten kann.
Wir besuchen eines Tages M. und G. S. Sie haben sich eine Kochhexe
angeschafft, die sie fleißig mit wenigem Holz bestücken, in der Hoffnung,
die Minustemperaturen in ihrem Zimmer zu besiegen.
Meine Mutter meint, sie könnten gleich eine Kerze in den Ofen stecken, das
habe die gleiche Wirkung. Beide sind total verzweifelt, denn sie haben
sowieso kein Material mehr zum Heizen, und bei dem wenigen Essen frieren sie
unaufhörlich. Sie können nicht einmal im Bett richtig warm werden und
glauben, bald erfrieren zu müssen. Überall im Zimmer macht sich funkelnder
Frost an Fenstern und Wänden breit.
Da bietet ihnen meine Mutter an, während der Kälte zu uns zu ziehen. Nach
einigem Zieren sind sie heilfroh, das Angebot annehmen zu können.
Da wir nur ein Bett frei haben, müssen sie sich damit behelfen. Zu anderen
Zeiten wurden schon einmal neben das Bett Stühle gestellt, so dass sich die
Schläfer quer ins Bett legten.
In der ersten Nacht beginnt bald zwischen den beiden ein großes Gezeter, als
sie sich anfangen, um ihre Bettdecke zu streiten. Nachdem sie uns beide
mehrmals aufgeweckt haben, muß meine Mutter energisch mit ihnen schimpfen,
damit Ruhe einkehrt.
Ungefähr 4 Wochen finden die beiden bei uns Unterkunft. Eine Verwandte von
Ihnen in Dannenberg will sie nicht aufnehmen.
Ich bin sehr besorgt, dass die Kälte den Kaninchen schaden könne. Jeden
Morgen laufe ich zum Stall, um nach ihnen zu sehen. Der Stall wird nicht
mehr ausgemistet, damit sich unten eine Isolationsschicht aufbauen kann. Sie
ist bald auf etwa 15 cm angewachsen.
Den Kaninchen scheint der Frost nichts anzuhaben. Sie sind auch nach den
kältesten Nächten putzmunter. Da es jetzt kein Grünfutter gibt, ist ihre
Versorgung mit Fressen nicht mehr ganz so einfach. Aber Heu und
Kartoffelreste sind immer noch vorhanden. Eine abwechslungsreichere Kost
kann erst wieder im Frühjahr angeboten werden.
Zu Weihnachten werden für den Tannenbaum mangels Weihnachtskugeln selbst
gebastelte Sterne hergestellt.
Diese Weihnachtssterne werden nach einem bestimmten raffinierten Knickmuster
gefaltet, das von Familie zu Familie weitergereicht wird. Als Lametta
benutzen viele das vor dem Kriegsende abgeworfene ´Lametta´ der Amerikaner
und Engländer. Der Baum sieht so auch ohne Kugeln sehr schön aus.
Ich erhalte von meiner Mutter eine kleine bunte Holzeisenbahn mit einigen
Anhängern geschenkt. Die einzelnen Wagen haben Streichholzschachtelgröße und
können mit Haken miteinander verbunden werden. Ich bin darüber so erfreut,
als hätte ich das große Los gewonnen.
Das Mehl ist wieder einmal ausgegangen und meine Mutter beschließt, mit mir
und unserem Schlitten zum Müller nach Streets zu laufen, um vielleicht etwas
zu ergattern.
Es ist ein eiskalter Tag und der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Mutter
meint, der Winter höre wohl überhaupt nicht mehr auf, und ich nehme das sehr
ernst. Ich glaube fest daran, dass in diesem Jahr der Sommer ganz ausfällt.
Dem Müller in Streets müssen wir sehr erbarmungswürdig aussehen, denn wir
erhalten die erhoffte Mehlmenge und noch etwas mehr. Erfreut treten wir den
Heimweg an, denn der Winter scheint nun etwas von seiner Strenge verloren zu
haben.
Trotz der strengen Frosttage hat sich auf der Elbe Hochwasser gebildet.
Kein Mensch kann sich hier erinnern, bisher ein Winterhochwasser in dieser
Höhe erlebt zu haben. Noch droht keine unmittelbare Gefahr.
Wenn wir Schulkinder am Morgen nach Dannenberg zur Schule gehen, können wir
ein seltsames Schauspiel erleben. Wir bleiben an der Jeetzelbrücke stehen
und sehen, wie der Fluss rückwärts in Richtung Quelle fließt.
Die Elbe bei Hitzacker drückt das Wasser in den Nebenfluss, so dass dieser
diese Wassermenge in das Hinterland abgeben muß.
Zusätzlich haben sich auch noch Eisschollen gebildet, welche die unmittelbar
am Ufer liegenden Dannenberger Häuser in der Nähe der Brücke gefährden.
Unser Lehrer Schaal, der in einem dieser Häuser wohnt, hat eine lange Stange
in der Hand und versucht damit, die Eisschollen von den Häuserwänden
fortzudrücken. Das sieht verdächtig nach schulfrei aus. Aber es wohnen ja
leider nicht alle Lehrer an der Jeetzel.
Der Schulplatz, der unmittelbar an den Fluss grenzt, ist schon merklich
kleiner geworden. Das Wasser erreicht sicher bald die Schule.
Das Hinterland hinter dem Deich in Nebenstedt besteht mittlerweile nur noch
aus einem großen See, der jeden Tag immer etwas mehr den Deich hochsteigt.
Vor dem Deich bilden sich die ersten Wasserstellen, die durch das
hochsteigende Grundwasser entstehen. Alle Wasserflächen sind bald mit Eis
überzogen, das am Anfang noch relativ dünn ist und beim Begehen durchbiegt.
Es wird daher von uns Kindern als Biegeeis bezeichnet.
Wir Kinder holen unsere Schlitten und fahren auf der Innenseite des Deiches
den Deich hinunter, wobei der Auslauf für den Schlitten von dieser Eisfläche
gebildet wird. Die Eisfläche bröckelt dabei am Deichrand bei jedem
Hinabfahren etwas ab, was uns aber nicht beeindruckt, weil die noch kleine
Wasserspalte vom Schlitten mühelos überwunden wird.
Die Erste, die sich nicht mehr auf diese Tatsache verlassen kann, ist C. W.
Der Schlitten bohrt sich, statt auf das Eis zu gleiten unter die Eisdecke.
Als sie sich an das Ufer retten will, bricht sie auf der sich in Wellen
biegenden Eisdecke ein und steht bis zum Bauch im Wasser. Dabei fängt sie
jämmerlich zu weinen an und macht keine Anstalten wieder an Land zu kommen.
Da ich ihr helfen will, begebe ich mich von der Seite aufs Eis und will sie
mit den Händen auf das Ufer ziehen.
Aber das Eis ist nun so bröckelig geworden, dass auch ich einbreche und
ebenfalls bis Bauchhöhe im Wasser stehe. Gemeinsam, Hand in Hand waten wir
nun an Land und frieren jämmerlich. Jetzt können wir nicht schnell genug
nach Hause gelangen.
C. erhält zu Hause noch zusätzlich zu ihrem Leid eine Tracht Prügel, was
durch die Wand mühelos zu vernehmen ist. M. hat nämlich alle Register ihrer
Lautstärke gezogen. Ich komme bei meiner Mutter glimpflich mit einer Schelte
davon.
Das Hochwasser steigt ständig.
In Dannenberg kann die Straße nicht mehr normal begangen werden. Deshalb
sind auf den Bürgersteigen Stellagen am Rand der Häuser aufgestellt worden,
über die der Fußgänger sein Ziel erreichen muß.
Der Schulweg führt ebenfalls über diese Hindernisse. Für uns Schulkinder ein
besonderes Erlebnis.
Die Schule kann nicht mehr über den Eingang des Schulhofs erreicht werden,
sondern nur noch durch den Vordereingang, der wie bei vielen Schulen so
üblich, normalerweise geschlossen bleibt.
Auf dem Schulweg wird schon einmal geschubst und gestritten. Bei einem
dieser Rangeleien fällt dann auch prompt einer der Schüler von der Stellage
ins kalte Wasser. Damit ist für ihn die Schule für diesen Tag beendet und er
läuft, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hat, schreiend nach
Hause.
In Nebenstedt spitzt sich die Lage durch das Hochwasser allmählich zu. Die
Gefahr, vom Wasser überflutet zu werden, droht weniger vom Deich im Ort, der
uns vor der noch immer ansteigenden Jeetzel schützt.
Zwar fehlen auch hier nur noch wenige Zentimeter, bis das Wasser die
Deichkrone erreicht, die Hauptgefahr kommt aber vom Elbdeich in Damnatz.
Dort steht der Wasserpegel nur kurz unter der Deichkrone. Der Deich wäre
schon lange gebrochen, wenn der Frost ihn nicht zusammenhielte. Anderseits
drohen sich auftürmende Eisschollen den Deich schnell zu zerstören.
Alles im Dorf hat sich auf Hochwasser eingestellt. Viele Bauern befördern
ihr Vieh über die strohbedeckte Treppe auf den Dachboden. Einige wollen die
Tiere irgendwo hinter Gusborn unterbringen.
Dort gibt es genügend Bodenerhebungen, die nicht vom Hochwasser erreicht
werden können. Der Höbeck mit seien 75 Metern Höhe nahe der Elbe ist die
höchste Erhebung und in dieser Hinsicht absolut sicher.
Die Menschen dort werden von uns beneidet, da sie keine Probleme mit dem
Wasser haben.
Es wird spekuliert, wie lange es dauert, bis das Wasser bei einem
Elbdeichbruch bei uns aufläuft, und wie hoch dann der Wasserspiegel an den
Häusern stände.
Am meisten fürchtet man dieses Ereignis zu nächtlicher Zeit. Wir schleppen
alle wichtigen Dinge auf die erste Etage und haben uns mit den notwendigen
Lebensmitteln, die zu erhalten waren, eingedeckt.
Das Wasser im Brunnen ist fast bis zur Höhe der Erdoberfläche gestiegen und
muß regelmäßig vom Eis befreit werden.
Es gibt nur noch ein Gesprächsthema, nämlich das Hochwasser.
Die Eisdecke hinter dem Deich hat eine beträchtliche Dicke erreicht.
Als die Lage in Damnatz äußerst kritisch wird, kommt die Meldung, dass der
Deich auf der anderen Elbseite bei Dömitz gebrochen ist. Dadurch wird das
aufgestaute Wasser nach Mecklenburg abgeleitet und es tritt auf unserer
Elbseite eine deutliche Entspannung ein, die das Wasser absinken lässt. Alle
Menschen atmen auf, wenn man sich auch darüber klar ist, dass diese
erfreuliche Lage auf Kosten der Bewohner der anderen Elbseite eintritt.
Man kann Dannenberg jetzt auch bequem hinter dem Deich erreichen und so den
Schulweg abkürzen. Mutter hat mit einer Tauschaktion gegen Lebensmittel ein
Paar Schlittschuhe für mich erworben. Der Hohlschliff ist zwar schon lange
heraus, und die Kufen sind schon rund abgelaufen.
Wir laufen hinter dem Deich auf der spiegelblanken Eisfläche. Am Anfang ist
das Laufen recht mühsam, weil die Schlittschuhe immer wegrutschen. Nach
einigen Tagen Übung habe ich mich trotz des fehlenden Hohlschliffs schon gut
eingelaufen.
Die kilometerlange Eisfläche setzt uns keine Grenzen. Das Rückwärtslaufen
ist für uns eine besondere Freude und beweist unser zunehmendes Können.
Da der Wasserspiegel zu fallen beginnt, ist in Deichnähe die Eisfläche so
abgeschrägt, dass wir sogar beim Starten vom Deich her bergrunter laufen
müssen.
Das Anbringen der Schlittschuhe am Schuh wird mit einem Schlüssel, dem
Nudler, vorgenommen. Dabei müssen wir beachten, die Schuhabsätze zu schonen,
da sie sonst abreißen. Wegen des knappen Schuhwerks wäre der Spaß ohne
Absatz schnell vorbei. Zusätzliche Riemen um den Schuh minimieren das
Risiko.
Oft wird nun, da das Wasser gefallen ist, der Schulweg mit Schlittschuhen
über die Eisfläche hinter dem Deich genommen. Das ist eine willkommene
Abwechslung und macht uns viel Freude. Nach vielen Tagen liegt das Eis
zerbrochen auf dem Boden und der Spaß ist vorbei.
Mitten im kalten Winter beschließen wir, Oma und Opa in B. G. zu besuchen.
Das ist in dieser Zeit keine so leichte Aufgabe, da die Züge immer voll
besetzt sind, und die Menschen sich teilweise außen an die Wagen klammern,
um überhaupt befördert zu werden.
Bei dieser Eiskälte zieht man allerdings das Reisen innerhalb der Waggons
vor. Wir fahren also erst mit dem Zug nach Uelzen, in der Hoffnung, dort
eine Fahrkarte nach Köln in einem D-Zug ergattern zu können. Nachdem meine
Mutter ewig lange am Schalter Schlange gestanden hat, wird sie zunächst
abgewimmelt. Eine Fahrkarte nach Köln könne nicht für sie ausgegeben werden.
Da zeigt sie auf mich, der ich verfroren auf dem Bahnhof stehe und bemerkt
dazu, dass ich nicht gesund sei, und das stundenlange Warten die ganze
Angelegenheit noch verschlimmere.
Der Mann am Schalter zeigt endlich Erbarmen und händigt uns Fahrkarten aus.
Der Zug erscheint, wie damals so üblich, mit Verspätung. Wir sind aber froh,
überhaupt mitzukommen.
Auf der Fahrt nach Köln summiert sich dann die Gesamtverspätung des D-Zuges
auf fünfeinhalb Stunden. Es ist also schon stockdunkel, als wir in der für
uns fremden Stadt ankommen.
Nach der Ankunft haben wir uns zunächst vorgenommen, Tante Emmi auf der
Teutoburgerstraße zu besuchen. Aber wie sollen wir jetzt dorthin gelangen?
Verkehrsverbindungen gibt es fast keine, und außerdem wissen wir auch nicht,
welche wir benutzen könnten.
Die Stadt ist wie tot. Das einzige intakte Gebäude scheint der Dom zu sein,
der in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs hoch aufragt. Bei genauerem Hinsehen
entdecke ich an ihm viele Kratzer und zum Teil schwere Schäden.
Alle Straßen sind unbeleuchtet und links und rechts nur von Trümmern
umgeben. Wir müssen im Wartesaal übernachten.
Morgens stehen wir vor dem Bahnhof und machen einen unschlüssigen Eindruck,
was wir anstellen sollen. Einen ehemaligen Soldaten, den man noch an seiner
verschlissenen alten Uniform erkennen kann, fragen wir nach dem Weg. Er ist
auch gerade aus dem Bahnhof gekommen, und weiß als Kölner hier gut Bescheid.
Er erklärt uns, er müsse in dieselbe Richtung und wolle uns mitnehmen. Da
haben wir nun großes Glück und ziehen los. Oft sind nur schmale Wege im
Trümmerfeld geräumt, um so die alten Straßen begehen zu können. Wir sind
über die vielen Trümmer, die man trotz der Finsternis sehen kann, entsetzt.
Bisher haben wir noch kein einziges ganzes Haus erblickt, als wir auf der
Severinstraße in Richtung Ebertplatz marschieren.
Links und rechts von uns nur Ruinen und Trümmerhaufen. Diese Trümmer reichen
bis auf die Straße.
Eine Orientierung ist dadurch kaum möglich.
Endlich erreichen wir die Bonnerstraße und kurz danach unser Ziel. Das Haus,
in dem Tante Emmi mit Onkel Georg und Tante Gerti wohnen, ist notdürftig
zusammengeflickt und es dauert eine Zeit, bis wir uns bei ihnen bemerkbar
machen können.
Sie wohnen im dritten Stockwerk und haben eine geräumige Wohnung. Es gibt,
für mich seit langer Zeit etwas Neues, richtige Möbel, die einen Luxus
ausstrahlen, den ich nur bewundern kann.
Mit Nahrungsmitteln sieht es hier in Köln allerdings gar nicht so gut aus.
Onkel Georg scheint wohl regen Schwarzmarkthandel zu betreiben, was die
Speisekarte etwas aufbessert.
Für die nächste Nacht sind wir also untergebracht und morgen geht es nach B.
G., wo die Großeltern ja immer noch im Flüchtlingslager wohnen. Wo mögen wir
wohl dort ein Bett erhalten?
Am nächsten Tag werden wir von den beiden abgeholt und fahren zunächst mit
den Weberschiffen, so heißen die Personenfähren über den Rhein, auf die
andere Seite des Stroms nach Deutz.
Dort fährt eine Straßenbahn nach B. G. Wir marschieren nun zum Kradepohl, wo
in einem Gebäude der Papierfabrik W. das Domizil für die Flüchtlinge
untergebracht ist.
In einem großen Raum befindet sich der Schlaf-und Wohnraum für mehrere
Familien.
Für uns ist auch noch ein Doppelbett frei.
Neben dem Lager wohnt eine Familie S., zu der die Flüchtlinge guten Kontakt
haben, was in dieser Zeit nicht immer selbstverständlich ist.
Für die Heizung im Lager ist gesorgt, weil diese über die Papierfabrik
versorgt wird. So muß man wenigstens nicht frieren.
Im Lager wohnen viele Kinder und die Familie S. braucht sich auch nicht über
Nachwuchs zu beschweren, so dass ich zum Spielen genügend Partner habe.
Ich freunde mich schnell mit allen an, und abends vergnügen wir uns mit
vielen Spielen an einem der Tische mitten im Raum des Lagers.
In die Stadt gehen wir nur selten, weil sie eine längere Wegstrecke vom
Lager entfernt ist.
Wir erfahren, dass ´Kradepohl´ Froschteich heißt, und ich muß mich vom
Plattdeutschen auf das ungewohnte Kölsch umstellen. Das ´Lurens hee´ (Schau
her) verstehe ich nicht und höre nur ein Lucie, was mir rätselhaft
erscheint, weil ich überhaupt keine Lucie sehe.
Die Großeltern bemühen sich zwar, wie alle Flüchtlinge um eine Wohnung,
jedoch ist überhaupt nicht an so etwas zu denken. Hier in B. G. wohnen auch
noch viele Kölner, die dort im Krieg ausgebombt worden sind.
Wenn jemand dennoch eine Unterkunft bezieht, besteht sie oft nur aus einem
Zimmer, in dem dann auch noch viele Personen leben.
Man kann dieses an der Haustüre erkennen, wo unter der Türschelle viele
Namen stehen, die dann mit Klingelanweisungen bei den Namen beschriftet
sind. (2 X schellen, 3 X schellen, 4 X schellen, einmal kurz, zweimal lang,
u.s.w.)
Wir wundern uns, dass auf diese Art überhaupt der Richtige erreicht wird,
aber Not macht erfinderisch.
In dieser Ecke Deutschlands, wo noch viel mehr Menschen wohnen, ist die
erfolgreiche Suche nach Heizmaterial noch schwieriger, als bei uns auf dem
Land.
Man kann hier beobachten, dass gewisse Waldbestände zusehends schrumpfen.
Wir fahren öfter nach Köln und bei Tageslicht kann ich so richtig erst
erkennen, wie die Stadt zerstört ist.
In einem Trümmerhaus auf der Bonner Strasse steht in einem durch zerstörte
Wände offenem Zimmer in einer Ecke ein Klavier, das niemand erreichen kann.
Einige Menschen haben sich in Kellerräumen niedergelassen und dort
notdürftig eingerichtet.
Unmittelbar nach dem Krieg sollen in Köln nur noch 30000 Menschen gelebt
haben. Kein Wunder, wo sollten sie dort auch unterkommen?
Opa glaubt, dass auch in 50 Jahren die Stadt nicht wieder aufgebaut werden
kann.
Der Dom und der Bahnhof beeindrucken mich sehr.
Wenn ich zu den Turmspitzen hinaufsehe, scheinen sie vor den Wolken, die
dahinter ziehen, umzustürzen.
Das Bahnhofsgebäude hat zwar keine Fenster mehr, scheint aber sonst noch
voll intakt zu sein.
Die Amerikaner haben über den Rhein eine Pontonbrücke gezogen, weil bis auf
die Eisenbahnbrücke sonst keine Überquerung des Rheins mit Fahrzeugen
möglich ist.
Das Leben im W. Lager ist uns nach 14 Tagen überdrüssig geworden.
Außerdem sind Lebensmittel hier so knapp, dass wir wieder nach Hause fahren.
Opa und Oma wollen sich weiter um eine Wohnung bemühen. Im Falle der
erfolgreichen Suche wollen sie, dass wir zu ihnen ziehen. Meine Mutter will
ihnen bei dieser knappen Lebensmittelversorgung ab und zu ein Paket mit
Essenssachen schicken, die bei uns zu haben sind, z. B. Brot und Butter,
wenn die Kälte nachlässt auch Kartoffeln.
Ich bin froh, wieder in Nebenstedt zu sein.
Wenn ich mit A. K. aus der Schule komme, nehmen wir schon ´mal den Weg am
Ostbahnhof vorbei. Dort hat sich in der Nähe direkt an der Straße eine
Gastwirtschaft in einer Baracke niedergelassen.
Es gibt dort ganz neue Getränke, unterrichtet mich A. die sehr gut schmecken
sollen. Wir wollen sie ausprobieren. Zuerst traue ich mich gar nicht in die
Holzbaracke, aber Adi ist mutiger und zieht mich hinein. In der Mitte stehen
ein paar Tische und ein Tresen, hinter dem der Wirt mit einem Kunden steht.
Als wir uns ein Glas von dem rot gefärbten Naß bestellen, fragt der Wirt, ob
wir ein Kalt-oder Heißgetränk haben wollen. Es sei dasselbe, nur eben kalt
oder heiß. Wir bestellen uns ein Heißgetränk und trinken es. Es schmeckt
praktisch nur etwas süß und nach viel Chemie; ansonsten sind wir enttäuscht
davon.
Für 50 Pfennig kann man ja auch nicht mehr erwarten. Limonade gibt es keine.
Die Erwachsenen trinken Molkebier, weil kein anderes zu haben ist. Es soll
scheußlich schmecken. Nicht besonders begeistert treten wir den Heimweg an.
Das Ende der 4. Klasse ist bald erreicht, und die Prüfung für die
Mittelschule steht vor der Tür.
Viele Mitschüler werden mit mir einen Tag lang geprüft. Als Test sollen ein
Diktat, ein Aufsatz und eine Rechenarbeit bewältigt werden.
Leider bleiben ein paar Schüler auf der Strecke, so dass ich mich von
einigen Schulfreunden in der Schule trennen muß. Das ist besonders für den
Schulweg nachteilig, weil ich dann im neuen Schuljahr nach Dannenberg
zeitweise alleine marschiere.
Der Winter will immer noch nicht enden, und allmählich haben wir von der
Kälte die Nase voll.
Im Wetterbericht sind die Vorhersagen des Nordwestdeutschen Rundfunks in
Hamburg hoffnungslos. Der Boden ist tief gefroren, obwohl der März schon
längst ins Land gezogen ist.
Der Gang nach draußen, um nach dem Wetter zu sehen, wird oft frustriert
schnell abgebrochen, weil sich immer noch keinen Milderung einstellt. Eines
Abends kommt meine Mutter strahlend herein und bittet mich, vor die Tür zu
kommen.
Ein laues Lüftchen weht uns entgegen und die Temperatur ist innerhalb kurzer
Zeit auf plus 12 Grad Celsius angestiegen. Die plötzliche
Temperaturdifferenz wirkt auf uns so, als hätten wir ein großes Geschenk
erhalten und wir fühlen uns wie im Sommer.
Nach wenigen Tagen scheint es so, als will die Natur alles Versäumte in
kurzer Zeit nachholen.
Da ich den Kaninchen nun die ersten grünen Grashalme angeboten habe,
sozusagen als Leckerbissen, werde ich sofort von meiner Mutter verdonnert,
weiteres Grünzeug zu besorgen.
Da hilft kein Protest, dass das Gras überhaupt noch nicht richtig wächst,
ich muß stundenlang wegen einzelner Hälmchen auf Grassuche gehen. Gott sei
Dank, wird die Suchaktion mit jedem Tag leichter und die Kaninchen scheinen
sich wirklich über ihr lang entbehrtes Grünfutter zu freuen. Das gibt mir
beim Grasrupfen inneren Auftrieb.
Nach den Osterferien beginnt der Unterricht in der Mittelschule.
Von R. F. sind wir über die guten und schlechten Lehrer schon informiert
worden, da sie schon zwei Jahre die Mittelschule besucht.
Wir haben in den Glückstopf gegriffen, denn unser Klassenlehrer heißt Griem
und ist der beliebteste Lehrer der Schule. Sein jüngster Sohn Hartmut ist
ein Mitschüler von mir. Er wird von seinem Vater allerdings nicht besser
behandelt, was wir zu schätzen wissen.
Herr Griem ist noch nicht lange in Dannenberg und hat in der Schule eine
grau gefärbte Soldatenuniform an. Offensichtlich hat er nicht viel im Krieg
retten können und mußte als Kleidung mit seiner Uniform vorlieb nehmen.
Da nicht allzu viele Lehrer zur Verfügung stehen, erteilt er in fast allen
Fächern Unterricht. Außerdem haben wir noch einen Englisch- und einen
Biologielehrer.
Der Biologielehrer (Lauer?) läuft mit uns oft in seinem Unterricht durch
Wiesen und Felder, um uns die dort wachsenden Pflanzen zu zeigen und zu
benennen. Wir sollen ihm alle Pflanzen bringen, die wir finden.
Das erweckt in uns den Ehrgeiz, ihn mit für ihn unbekannten Pflanzen in
Verlegenheit zu bringen. Aber trotz aller Mühe gelingt uns das nicht, was
wir gar nicht begreifen können und uns viel Respekt einflößt.
Der Englischlehrer ist keine so große Respektsperson. Vor seinem Unterricht
machen wir viel Blödsinn und eines Tages verstecken wir unseren Mitschüler
Eylerts, der sich heftig dagegen wehrt im Klassenschrank.
Er poltert beim Eintreten des Lehrers im Schrank herum und wird erst
allmählich etwas ruhiger.
Der Lehrer prüft nun die Anwesenheit der Schüler, die dann beim Aufruf ihres
Namens mit lautem ´Hier´ antworten müssen. Als der Name Eylerts aufgerufen
wird, herrscht Stille. Beim zweiten Aufruf ruft ein Mitschüler.
´Eylerts sitzt im Schrank´.
Der Lehrer reagiert darauf nicht und fragt erneut, was mit Eylerts sei und
ob er vielleicht krank wäre. Er erhält wieder die Auskunft
‘Eylerts sitzt im Schrank´
und trägt ihn darauf als fehlend in das Klassenbuch ein.
Der gute Eylerts muß daraufhin eine ganze Schulstunde im Schrank verbringen.
Was er sich am nächsten Tag als Entschuldigung für sein ´Fehlen´ ausgedacht
hat, wer weiß es?
Lehrer Griem gibt auch das Fach Musik, und jeder in der Klasse muß zuerst
durch ein selbst auszuwählendes Gesangsstück seine Musikalität vorweisen.
So wird der Reihe nach vorgesungen und solange ich noch nicht selbst dran
bin, finde ich es ganz lustig.
Aber je schneller die Reihe bald an mir ist, umso mehr fange ich an zu
schwitzen. Als ich dran bin, will ich das Lied
´Auf, du junger Wandersmann´
singen. Beherzt fange ich damit an, habe aber nicht tief genug begonnen, so
dass mir irgendwann die hohen Töne fehlen.
So fahre ich eine Oktave tiefer fort und werde tatsächlich deshalb noch
gelobt, weil ich mit dem Singen nicht aufgehört habe.
In der neben der Schule stehenden Kirche befindet sich eine Orgel, deren
Gebläse noch mit den Füßen bedient werden muß.
Diese Orgel wird in jedem Gottesdienst von Herrn Griem gespielt, der uns
beim Schulgottesdienst ebenfalls etwas vorspielt.
Jeder von uns Schülern muß dann, der Reihe nach den Blasebalg treten. Dieses
wird jedoch nicht als Strafe, sondern als hohe Ehre empfunden und macht
sogar Spaß.
Auch ich bin dann irgendwann dran.
Das läuft dann so ab, dass ich beide Füße auf die aus der Wand
herausragenden zwei Pedalen stelle und mich mit an der Wand befestigten
Haltegriffen festhalte und trete. Stets muß ich darauf achten, dass der
Orgel nicht die Luft ausgeht, besonders an den lauten Stellen des gespielten
Stückes verbraucht sie viel Luft.
In der Schule werden besondere Aktionen organisiert, die der Allgemeinheit
dienen sollen.
Wir werden regelmäßig zum Kräutersammeln abkommandiert. Die ganze Klasse
marschiert dann in die freie Natur. Der Lehrer, der uns begleitet, erklärt
uns zuerst, was gesammelt werden soll.
Die Kräuter werden uns beispielhaft gezeigt. Wir sammeln in Gruppen
Gänsefingerkraut, Spitzwegerich, Breitwegerich, oder das Hirtentäschelkraut,
und wenn die Suche beendet ist, werden diese Kostbarkeiten in der Schule auf
alten Zeitungen in einem dafür vorgesehenen Raum auf dem Dachboden
ausgebreitet.
Diese Kräuter werden, wie man sagt, an Fabriken weitergegeben, welche daraus
Tee oder Medikamente herstellen.
In der Gegend sind die ersten Kartoffelkäfer aufgetaucht.
Bisher sind diese Viecher hier unbekannt gewesen. Sie sickern allmählich von
Westen ein und sollen aus Frankreich stammen.
Ihr Appetit an den Blättern beeinflusst das Wachstum der Kartoffel sehr und
richtet so großen Schaden an. Deshalb werden sowohl in der Schule als auch
in der Gemeinde Kinder für die Suche auf die Felder geschickt. Da hier noch
niemand einen Käfer gesehen hat, zeigt man uns Bilder der gelb-schwarz
gestreiften Pflanzenfresser.
Jeder von uns hat sich eine Gerte besorgt, mit der das Kartoffelkraut zurück
gebogen wird, um unter die Unterseite der Blätter sehen zu können. Dort
sollen sich die Käfer aufhalten und die Pflanzen anknabbern.
Wir marschieren reihenweise durch die Felder und verbringen auf diese Art
dort viele Stunden.
Es ist zwar erfreulich, hier bisher noch keinen Sucherfolg verzeichnet zu
haben, aber wir sind ohne ein Ergebnis beim Suchen schon etwas frustriert.
Warum müssen wir so viel Zeit umsonst vergeuden?
Die Gemeinde Nebenstedt hat jeden Bauern verdonnert, jemanden für solche
Suchaktionen zu stellen. Ich bin als Vertretung für den Bauern bestimmt, der
den Mohn im letzten Jahr angebaut hat.
Allen Landwirten wird empfohlen, die Löhnung in Form von Naturalien
auszuzahlen. Als ich meine Arbeit beendet habe, gehe ich zu dem Bauern und
klopfe schüchtern an dessen Türe, um die Beendigung meiner Tätigkeit zu
melden.
Der Bauer steht mit seinen Knickerbockerhosen oben auf dem Treppenabsatz
seiner Türe, nickt mit dem Kopf und verschwindet daraufhin wieder, ohne sich
weiter sehen zu lassen.
Als ich nach Hause komme und meiner Mutter von meinem erfolglosen
Kartoffelkäfersuchen berichte, meint sie, ich sei wohl nicht energisch genug
gewesen, um meinen Lohn einzustreichen.
Leider hat er dieses Jahr nicht mehr Mohn auf dem Feld ausgesät. Ich hätte
mir den Lohn sonst als Deputat im Herbst abgeholt.
Ab und zu ist ein Besuch beim Frisör notwendig. Ich gehe dann mit A. K. nach
Dannenberg, wo es den einzigen Frisör direkt am Marktplatz gibt.
Für 40 Reichspfennige lassen wir uns dann unseren Einheitsschnitt verpassen.
In dieser Zeit wird noch sehr stark auf eine ordentliche Frisur geachtet.
Deshalb ist dieser Weg etwa alle drei Wochen fällig.
As. Mutter besitzt einen Fotoapparat, ein seltener Besitz hier auf dem
Lande.
Filme sind nicht zu haben, höchstens als Bauer mit Naturalien hat man eine
Chance, einen Film zu ergattern. Frau K. scheint zu diesen Bevorzugten zu
gehören, denn eines Tages müssen wir uns aufstellen, um von As. Mutter auf
den Film gebannt zu werden. Sogar der Hund Telly, ein Mischling mit
weißrotem Fell steht neben uns.
Wir wissen gar nicht genau, wie wir uns für diese Aufnahme zu posieren
haben. Unsere Arme scheinen uns auf einmal überflüssig zu sein, weil wir sie
nirgendwo hintun können. Aber nach einigem Dirigieren gelingt dann doch die
Aufnahme.
Zwischen dem Pantinenmacher N. und Nebenstedt steht etwas abseits eine
richtige Windmühle. Sie hat zwar wohl schon seit einiger Zeit keine Flügel
mehr, ist aber sonst noch gut in Schuss. Sie besitzt eine dunkle Farbe und
sieht deshalb etwas düster aus.
Seit kurzer Zeit wird die Mühle von einem Müller betrieben, der sie auf
elektrischen Antrieb umgestellt hat. Die Bauern bringen nun ihr Korn dahin,
um es mahlen zu lassen.
Wir Kinder dürfen manchmal die Mühle betreten, um uns dort etwas
umzuschauen. Eine steile Holztreppe führt nach oben, wo das Korn gemahlen
wird. In allen Räumen herrscht ein intensiver Mehlgeruch, der mir sehr
angenehm duftet.
Beim Mahlvorgang werden unten unter einem Rohr die Mehlsäcke festgebunden,
die in kurzer Zeit jeweils mit Mehl gefüllt und durch neue leere Säcke
ersetzt werden.
Die schweren Kornsäcke muß der Müller nach oben schleppen. Sie sind zum Teil
bis zu zwei Zentner schwer.
Die Mühle ist gar nicht lange in Betrieb, als eines Tages ein Feuer
ausbricht, und das ganze Gebäude zerstört. Es wird im Ort gemunkelt, dass
der Müller sie absichtlich angesteckt habe. Das wird jedoch nie bewiesen.
Der Müller baut daraufhin am Ortsende ein neues Gebäude aus Klinkern auf.
Die Kinder im Dorf haben ein neues Spielzeug erhalten, das neuerdings
käuflich zu erwerben ist: Stelzen.
So sieht man bald überall Kinder herumlaufen, die es in kurzer Zeit zu
großer Geschicklichkeit im Stelzenlaufen gebracht haben. Am Anfang halte ich
mich noch etwas zurück, indem ich beide Stelzen beim Laufen unter die Arme
klemme. Nachdem alle Variationen auf diese Art ausprobiert worden sind,
werden die Stelzen an den Spitzen weit vor sich nur noch mit den Händen
angefasst, um die Schwierigkeit beim Laufen zu erhöhen.
So versuchen wir uns gegenseitig anzuspornen, weitere Varianten
auszuprobieren. Es wird erzählt, dass in einigen Ländern Briefträger auf
Stelzen laufen, um auf diese Art schneller vorwärts zu kommen.
Gelangt man mit den Dingern in tiefen Sand, fällt der ´Artist´ auch schon
einmal auf die Nase.
Bei einer solchen Aktion reiße ich mir einen großen Splitter zwischen Daumen
und Zeigefinger in die linke Hand. Wir können diesen Splitter zwar gut
fühlen, es ist aber unmöglich ihn zu entfernen, weil er viel zu tief im
Fleisch sitzt.
Meine Mutter will mit mir zum Krankenhaus nach Dannenberg laufen. Das
befindet sich am Ortsausgang Richtung Uelzen.
Es ist ein langer Weg dorthin.
Der mich untersuchende Arzt, stellt fest, dass der Splitter herausoperiert
werden müsse. Das ginge jedoch nur unter Narkose, und ich solle eine Nacht
im Krankenhaus bleiben.
Da es schon Abend ist, und ich noch nichts gegessen habe, erhalte ich einen
Grießbrei mit Himbeersaft, der mir überhaupt nicht schmeckt.
Ich kriege in einem Badezimmer ein Bett hingestellt und darf dort die Nacht
verbringen. Meine Mutter will mich am nächsten Tag wieder abholen.
Am nächsten Morgen soll ich vor der Operation noch einmal die Toilette
benutzen, was ich jedoch nicht für nötig halte.
Ich werde in den Operationssaal geschoben und erhalte eine Maske über den
Kopf, auf die eine Krankenschwester das Narkosemittel Karbol tropft. Zu
dieser Zeit gibt es wohl noch keine andere Möglichkeit, zu narkotisieren.
Während dieses Vorgangs soll ich fleißig zählen. Als ich bei zehn angekommen
bin, empfiehlt der Arzt mir, das ABC aufzusagen. Kaum fange ich damit an,
dreht sich alles um mich herum, ich sehe eine Sonne kreisen und dann weiß
ich nichts mehr.
Während der Narkose träume ich allerlei Zeug, und als ich erwache, höre ich
den Arzt schimpfen:
‘Das Schwein hat auf den Operationstisch gepinkelt´.
Das berührt mich gar nicht, denn ich bin froh, wieder wach zu sein.
Schon schiebt man mich hinaus, und jetzt kann ich den Verband an meiner Hand
bewundern, den man mir angelegt hat.
Es gibt bald Frühstück und danach sehe ich im Flur schon sehnsüchtig aus dem
Fenster, ob meine Mutter wohl bald käme. Dabei wird mir, durch die Narkose
bedingt, erst einmal tüchtig schlecht und ich habe einen widerlichen
Geschmack im Mund.
Es dauert gar nicht lange, als ich vom Fenster aus Mutter schon die Straße
lang kommen sehe, und ich winke ihr stolz mit meiner weiß verbundenen Hand
zu.
Einen Krankenschein gibt es für uns in dieser Zeit noch nicht. Auf die Frage
meiner Mutter an den Arzt, was sie zu zahlen habe, entgegnet dieser, man
würde eine Rechnung schicken.
Eine Rechnung haben wir allerdings nie erhalten. Das Wechseln des Verbandes
müssen wir in den nächsten Tagen selbst vornehmen, denn der tägliche Gang
ins Krankenhaus ist zu aufwändig und wohl auch nicht nötig.
Das Stelzenlaufen fällt für einige Tage aus.
In meiner Schulklasse ist ein Schüler, der Ch. K. heißt und mit seiner
Mutter in Predöhlsau an der Elbe wohnt.
Er ist ebenfalls Flüchtlingskind, verhältnismäßig klein, hat dunkle lockige
Haare und sieht mit seiner Brille mit runden Gläsern wie ein Professor aus.
Reden kann er jedenfalls gut. Außerdem hat er eine Leidenschaft, nämlich das
Angeln.
In seinem Dorf bieten sich genügend Gelegenheiten dazu, denn auch hier haben
sich im Laufe der Zeit durch viele Deichbrüche der Elbe hinter dem Deich auf
der Dorfseite viele Bracks gebildet.
Er lädt mich zum Angeln ein und tut so, als ob die Bracks alle ihm gehören.
Offensichtlich kümmern sich die Bauern im Ort nicht viel um ihre Gewässer,
denn beim gemeinsamen Angeln hat uns bisher niemand gestört.
Dennoch versuchen wir dann, uns möglichst unauffällig zu verhalten, man kann
ja nicht wissen.
Eines Tages erkennen wir, dass die Bracks offensichtlich doch jemandem
gehören.
Als wir an einem vorbeimarschieren, sehen wir mehrere Männer mit Netzen, die
das Gewässer befischen. Neugierig schauen wir dabei zu und sind erstaunt,
was alles in diesem Brack an Fischen vorhanden ist.
Hechte, Barsche viele Weißfische und sogar Aalruten, die wir noch nie
gesehen haben, werden aus dem Wasser geholt.
Nun wissen wir jedenfalls, dass unsere Angelei illegal ist, und wir suchen
uns nur abgelegene Gewässer aus, um unserer Leidenschaft zu frönen.
In der Mittelschule haben wir eines Tages eine Freistunde. Ch. und ich
überlegen uns, was wir wohl die ganze Zeit anstellen wollen.
Da kommen wir auf die Idee, den Lehrer Busse in seiner Klasse zu besuchen.
Nun hat dieser gerade Unterricht und wir beschließen, einfach an die Türe zu
klopfen.
Gesagt, getan. Wir stellen uns vor die Klassentür und klopfen laut dagegen.
Plötzlich verlässt uns der Mut, und wir nehmen die Beine in die Hand und
laufen durch den Hinterausgang über den Schulplatz in Richtung Kirche davon.
Herr Busse ist jedoch sehr schnell an die Klassentüre geeilt. Er hat uns
wohl schon entdeckt, denn wir hören ihn hinter uns laut herrufen. Er fordert
uns auf, stehen zu bleiben, was wir natürlich nicht machen.
Im Ort verstecken wir uns zunächst einmal.
Als wir uns zur Schule schleichen wollen, wir müssen ja irgendwann wieder
zurück zum Unterricht, entdecken wir, dass Busse seine ganze Klasse
aktiviert hat, um uns zu fangen.
Wir beraten nun, was zu tun sei. Zurück müssen wir auf jeden Fall, also
lassen wir uns erwischen.
Im Triumphzug werden wir von Busses Fängergruppe in seine Klasse geschleppt.
Busse fängt nun in seiner typischen polterigen Art an, uns zu erklären, was
er mit uns alles tun will. Mitteilung an die Mittelschule mit allen ihren
Folgen für uns, und andere Ankündigen lassen unsere Knie weich werden.
Wir beteuern immer wieder, wir hätten ihn doch nur besuchen wollen, und
endlich lässt er uns dann ziehen, ohne weitere Maßnahmen zu ergreifen. Wie
sind heilfroh, so glimpflich davongekommen zu sein.
R. F. ist vom Gesundheitsamt drei Wochen nach Langeoog geschickt worden, um
etwas aufgepäppelt zu werden.
Eigentlich sieht sie gar nicht so mager aus. Vielleicht hat sie ja auch
etwas von ihrem Vater mitgekriegt oder es besteht eine Gefahr für sie, sich
angesteckt zu haben.
Nachdem sie wieder zurückgekehrt ist, schwärmt sie mir ständig vor, wie
schön es dort gewesen sei.
Sie begeistert mich so von dieser Insel, dass ich meiner Mutter öfter in den
Ohren liege, ich möchte auch einen Erholungsurlaub an der See verbringen.
Der Bericht von dem vielen Wasser hat es mir besonders angetan. Nach langem
Quengeln zieht sie mit mir zum Gesundheitsamt nach Dannenberg, um für mich
einen Erlaubnis zu erlangen, nach Langeoog geschickt zu werden.
Lange müssen wir dort im Gang warten, bis wir drankommen. Eine Ärztin fragt
uns, welches der Grund unseres Kommens sei. Nachdem meine Mutter ihr
Anliegen erklärt, untersucht sie mich und meint, ich sei viel zu gut
genährt, um eine Kurerlaubnis zu erhalten, und wir sind danach wieder
schnell draußen.
Meine Enttäuschung darüber ist zuerst riesengroß. Nachträglich bin ich mir
nicht mehr so sicher, ob mir mehrere Wochen, getrennt von zu Hause, so gut
gefallen hätten. Ein später in Bergisch Gladbach durch die Schule mitgemachtes Zeltlager
hat mir gar nicht gepasst.
Der Juni ist ins Land gezogen. Herrliche Sommertage im Dorf. Die Sonne
verwöhnt uns mit flimmernder Hitze, die über den vielen Korn- und
Kartoffelfeldern steht.
Die Sowjets haben in Berlin die Zugangswege zu Lande und zu Wasser gesperrt.
Sie wollen Berlin aushungern und die westlichen Alliierten zwingen, die
Stadt aufzugeben.
Da haben sie aber nicht mit deren Zähigkeit gerechnet.
Die Amerikaner richten eine Luftbrücke ein, mit der sie alle Güter nach
Berlin einfliegen.
Diese Luftbrücke führt genau über Nebenstedt. So können wir die fast jede
Minute fliegenden Maschinen beobachten, wie sie relativ niedrig über uns
hinweg fliegen und über dem Waldstück bei Seybruch Richtung Elbe
verschwinden. Bisher hatten Flugzeuge eine unangenehme Erinnerung in uns
geweckt, so dass wir uns erst wieder an deren Anblick gewöhnen müssen.
Das laute Brummen der Motoren ist fast ständig zu hören. Niemand von uns
weiß, wie lange diese Berliner Luftbrücke existieren wird, und ob die
westlichen Alliierten diesen Aufwand durchhalten werden. Wir können noch
nicht ahnen, dass die Flugzeuge bis in den Mai des nächsten Jahres ihre
Fracht in Berlin abladen würden.
Die Bevölkerung von Berlin ist in Worten sehr erfinderisch und bezeichnet
sie bald als Rosinenbomber. Diese Aktion kann natürlich nur mit gewaltigem
finanziellem Aufwand betrieben werden, den sich die Alliierten
offensichtlich leisten können.
Die Großeltern haben aus B G. geschrieben.
Sie haben eine Wohnung erhalten. Sie besteht aus drei Räumen in einem Haus
auf einer Anhöhe, von der man die ganze Kölner Bucht übersehen kann.
Die Aussicht von dort in Richtung Köln scheint somit phantastisch zu sein.
Allerdings gibt es auch viele Wermutstropfen.
Sie sind durch eine Zwangseinweisung eingezogen, die zu der Zeit ja durchaus
üblich ist.
Die Hauseigentümer sind nicht gerade begeistert, fremde Leute im Haus
aufzunehmen.
Es gibt in der Wohnung kein Wasser und ein Keller steht auch nicht zur
Verfügung. Die Wäsche kann im Haus nicht gewaschen werden. Meine Oma muß
dann mehrere Minuten Weg zurücklegen, um bei netten Bekannten waschen zu
können.
Wir sollen jetzt möglichst schnell zu ihnen ziehen.
Meine Mutter geht zur Spedition K. nach Dannenberg, ein Bruder von A. Vater,
um sich nach einem Termin für den Umzug zu erkundigen. Herr K. kann jedoch
noch keinen Termin nennen, und so müssen wir auf eine Nachricht von ihm
warten. Endlich teilt er uns nach ein paar Tagen mit, dass wir am 21. Juni
umziehen können.
Das ist genau einen Tag nach der Währungsreform, an der die neue DM
eingeführt werden soll.
Da wir ja noch kein neues Geld haben, können wir die geforderten 310 DM,
einen Betrag, den wir sowieso nicht aufbringen können, nicht bezahlen.
Meine Mutter hinterlässt als Pfand für eine spätere Begleichung der Rechnung
mehrere Goldringe.
Der 20.Juni ist der Termin, an dem jeder Bürger 40 DM auf die Hand bekommt,
mit denen er erst einmal leben muß. Dieser Betrag wird beim Gemeindedirektor
K. jedem Nebenstedter ausgezahlt. Es sind recht bunte Scheine. Sogar 5 und
10 Pfennige sind in Papiergeld zu haben.
Münzen stehen noch nicht zur Verfügung. Das Geld ist in den USA gedruckt
worden. Es wird von den Menschen bestaunt und man ist gespannt, ob die
Währungsreform in Deutschland Vorteile bringen wird.
In der Schule habe ich mir von den Freunden schlaue Sprüche in mein
Poesiealbum schreiben lassen. Hier hat jeder Jugendliche, auch Jungen, so
ein Erinnerungsbüchlein. Selbstverständlich tragen sich bei mir nur Jungen
in das Album ein. Auch Lehrer Griem hat mir etwas hineingeschrieben. Als ich
ihm später aus Bergisch Gladbach mehrere Briefe schreibe, hat er mir immer fleißig
geantwortet.
Am nächsten Tag ist der Umzugstermin.
Ein Bekannter meiner Mutter ist uns zur Hilfe gekommen, um unsere
Habseligkeiten in den Speditionswagen zu laden. Eigentlich ist es ja gar
nicht viel, was wir mitzunehmen haben.
Da sind jedoch unsere Holzvorräte, und die Kaninchen sollen ja auch
umziehen. So dauert es einen ganze Weile, bis alles verstaut ist.
Ich kann es gar nicht erwarten, wegzukommen. Ein Glück, dass ich noch nicht
ahne, wie schnell ich mich nach Nebenstedt zurücksehnen werde.
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