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Zur Flucht entschlossen
1953 von Wootz bei Nacht über die Elbe
Quelle:
Herbert Roost
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Mehr von der Lenzer Wische:
Wootz 1900-1925
Wootz 1925-1945
Zum Thema
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Der "Gasthof zum Elbestrand" lag direkt am Deich gegenüber von Gorleben
und brannte 1945 durch Beschuss ab. |
Bei Kriegsende wurde auch in Wootz wie an vielen Abschnitten der Elbe beim Übersetzen der deutschen Truppen tagelang geschossen. (
Gorleben 1945). Dabei wurden einige Häuser zerstört, darunter auch der
"Gasthof zum Elbestrand", der zu dieser Zeit von Familie Becker
geführt wurde. Fischer Köthke und andere Familien gingen ins Wendland, bevor die
sowjetische Armee in die Lenzer Wische kam. Flüchtlinge aus dem ferneren
Osten blieben in Wootz.
Anfang der 50er Jahre ist die kommunistische
Regierung unter Stalins Regie in der sowjetisch besetzten Zone fest
installiert. Der neue Staat, die DDR, hat durchaus Rückhalt bei Teilen der
Bevölkerung, die versuchen, sich einzurichten und die ihr
Zuhause nicht verlassen wollen.
Auch die Bauern in Wootz hoffen, mit dem neuen Regime zurecht zu
kommen, wenn auch vielleicht nicht so gut wie mit dem letzten. Sie werden
wieder umworben. Aber die Richtung gefällt ihnen nicht. Großgrundbesitz von
adligen Gütern ist enteignet worden und an freie Bauern aufgeteilt. Doch die
Bauern
sollen sich zu Genossenschaften zusammentun und somit die Verfügungsgewalt
über ihre Wirtschaft aufgeben.
Das Elbufer bei Wootz wird durch russische Soldaten und DDR-Volkspolizisten
scharf bewacht. Um den rapiden Bevölkerungsverlust der DDR zu stoppen, wird
der Umzug von Wootz ins Nachbardorf Gorleben zum Verbrechen "Republikflucht"
erklärt. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West gewinnt an Schärfe.
Wootz und Gorleben, zwei Nachbardörfer am selben Fluss, liegen nun so weit
voneinander entfernt wie Moskau und Washington. |
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Die Herdbuchzucht von Milchkühen bildet in der Lenzer Wische
traditionell den Hauptanteil der Landwirtschaft. Foto links:
Wootzer Bauern führen ihre preisgekrönten Kühe auf der
Landwirtschaftsausstellung 1950 in Leipzig vor. Foto rechts:
Vorführung in Kietz 1950. |
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Herbert Roost heiratet 1951 Irma Schröder aus Kietz. Sie führen
zusammen mit den Eltern Hugo und Elli Roost den großen Hof in
Wootz.
4 Pferde, 12 Kühe, 19 Jungtiere, 23 Schweine, 90 Hühner, neun
Schafe, fünf Lämmer. Das ist Herbert Roosts Auflistung der
Tiere, die sie zurücklassen, als sie zwei Jahre später das
Verbrechen der Republikflucht begehen. |
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Irma Roost beim Melken auf der Weide. |
1952 wird die Tochter Margrit Roost geboren. |
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Nur wenige Bauern sind bereit, freiwillig (darauf wird
offiziell wert gelegt) ihre Landwirtschaft in die LPG
einzubringen. Deshalb wird auf subtile Weise Druck auf die
Bauern ausgeübt.
Die planwirtschaftlichen Lieferquoten sind als
Druckmittel geeignet. Wo sie nicht erfüllt werden, wird Vieh
oder Gerät konfisziert und dieser Bauer gilt als politischer
Gegner. Die Revolution im Stalinismus kennt gegenüber Gegnern
keine Hemmungen. |
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1951 werden bei einer der schärfsten Maßnahmen mit der
menschenverachtenden Bezeichnung "Aktion Ungeziefer" über Nacht
und ohne Ankündigung zahlreiche Familien, die als nicht
systemtreu denunziert worden sind, aus den grenznahen Gebieten
umgesiedelt. Schreiben, wie das weiter unten dokumentierte, sind sicherlich die
Grundlage für die Auswahl der Personen. Auch aus Wootz und
Mödlich werden Familien abtransportiert:
Aus Wootz der Gastwirt Alfred Fehrmann.
Aus Mödlich: Gastwirt
Walter Gätke,
Familie Jochen Betke, Familie Waldemar Fabel, Familie Walter Fintel, und
Familie Reinhard Mertens.
Nach dieser stalinistischen Aktion geht die Angst um. Wer steht
als nächstes auf der Liste?
Drei junge Leute beschließen im Sommer 1952 ohne Hab und Gut in
den Westen zu gehen. Am 14. Juli schwimmen Marianne Roost, Lotte
Zielke und Günter Bartels bei Nacht durch die Elbe. Die Elbe ist
ein Strom mit unwägbaren Strömungen. Aber die drei
erreichen das Gorlebener Ufer und Marianne Roost findet bald bei
Bäcker Schulz in Trebel Arbeit und heiratet dort Fritz Kraack. |
Marianne Roost 1952 aufgenommen bevor sie durch die Elbe in den
Westen schwimmt. |
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Im Nachlass von Herbert Roost befindet sich die Kopie eines
Schreibens des damaligen Bürgermeisters von Wootz an den Rat des
Kreises Westprignitz von 1951. Es ist nicht bekannt, ob es in dieser Form überhaupt abgeschickt worden ist und
wie die Kopie an Herbert Roost gelangt ist. Der Inhalt
vermittelt jedenfalls mit der verwirrenden Mischung
unterschiedlicher Themen eine Vorstellung über die
Konflikte und über das Klima der Denunziation. Dazu gehören
Intrigen, alte Feindschaften, neue Überzeugungen, Angst, eigene
Interessen ...
Der Brief kann hier im
Original aufgerufen werden. Wegen
der zahlreichen Unklarheiten wäre es nicht angemessen, ihn hier
abzuschreiben. Es handelt sich um keine offizielle Archivalie und ist wohl nicht zitierfähig. |
Einige Erläuterungen zu dem Schreiben:
Überlieferung = Es wurde mehr geliefert, als laut "Plan-Soll"
gefordert.
Solleier = Soll-Eier. Es geht um Lieferquoten der Bauern, also
das Soll in der Planwirtschaft.
LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
VdgB = Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe.
(Massen-organisation innerhalb der Nationalen Front.)
Stresow: Dieses Dorf zwischen Gummern und Bömenzien direkt an
der Grenze wird von der DDR evakuiert und zerstört. Für die
Zwangsumsiedlung wird 1951 laut diesem Schreiben für eine
Familie Wohnung in Wootz gesucht.
Der Name Wernecke / Werneke / Wernicke kommt in den Unterlagen
in diesen unterschiedlichen Schreibweisen vor.
Ebenso Martens / Mertens / Maertens. |
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Um den Ernst der Sache ein wenig einzuschränken ein Hinweis auf
den kleinen "Freudschen Fehler" des Briefschreibers: ... und
wissen, daß ich nur mein Bestes will. |
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Die
Repressalien in Wootz nehmen zu. Wer mit den Lieferquoten im Rückstand ist,
fühlt sich am meisten bedroht. Dazu gehören auch die Familien Roost, Wernecke und Becker. Irgendwann wissen sie konkret, dass sie auf der Liste
stehen. Im Februar 1953 entschließen sie sich, "wegzumachen".
Aber die Familien mit Großeltern und kleinen Kindern können nicht
wie die Jugendlichen durch die Elbe schwimmen.
Zunächst einige Erläuterungen zu den Personen im unten folgenden Originalbericht.
Reinhard Becker und seine Mutter Minna Becker wohnen, seit ihr Gasthaus "Zum
Elbestrand" 1945 abgebrannt ist, in der dortigen Scheune.
Herbert und Irma Roost haben die jetzt knapp ein Jahr alte Tochter Margrit.
Die Großeltern Hugo und Elli Roost wollen ebenfalls mit.
Auf dem Nachbarhof haben Hermann und Lisa Schulz den Sohn Heinz-Holger, der
gerade ein Jahr geworden ist. Die Eltern von Lisa Schulz, August und Elise
Wernecke bewirtschaften den Hof. Hermann Schulz ist Volkspolizist (VoPo). Er
spielt bei der Ausführung der Flucht eine entscheidende Rolle.
Auf dem Nachbarhof zur anderen Seite wohnt Hans Wernecke und ganz in der
Nähe auch seine Verlobte Anneliese Mertens. |
Lisa Schulz
Margrit Roost und Heinz-Holger Schulz |
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In einem kleinen Taschenkalender notiert Herbert
Roost die
Vorbereitungen und die Flucht.
7. Februar 1953
Papas Geburtstag gefeiert. .... Keiner ahnt, dass wir im März
etwas vorhaben. |
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Zunächst eine Kurzform, wie Herbert Roost sie notiert hat
Ab Februar haben wir uns entschlossen, die liebe Heimat zu
verlassen. Wernekes, Beckers, Hans Werneke. Nur die Frage
ist, wie und wann über die Elbe? Es werden stundenlange Debatten
bei August Wernekes gehalten. Hermann Schulz will die Sicherung
und das Freihalten des Elbedeiches von Polizei und Russenposten
übernehmen. Die wichtigste Aufgabe ist für uns die
Kahnbeschaffung. Die ersten Vorbereitungen werden dafür
getroffen. Für uns kommt nur Karl Wendt in Bäckern in Frage, der
uns in dieser Angelegenheit helfen kann. Karl sagt zu. Ich nach
Bäckern und Verbindung aufgenommen. Wernekes besorgten sich
einen Kahn aus Polz. Gegen Abend 21:00 Uhr von Polz abgefahren.
Um 23:30 Uhr bin ich zum Achterdeich gegangen. Hermann, August
Werneke und ich haben dann den Kahn beim Neubrack über den
Achterdeich gesetzt. Es war eine schwere Arbeit. Dann am
Mödlicher Qualmdeich runter gefahren bis zu Wernekes Koppel,
dort über den Qualmdeich gehoben. Am Achternsee untergeparkt.
Elli Roost 1951 |
Nachts um 2:00 Uhr nach Hause gekommen. Jetzt galt es, die
Vorbereitungen weiterzutreiben. Ich nach Bäckern gefahren. Die
Kahnfrage gab sich verschlechtert. Mit Karl abends nach
Ziegelhof und dort einen Kahn losgemacht und bei K. W.
hingefahren. Nach zwei Tagen ist der Kahn wieder geholt worden.
Wir einigten uns den Kahn von Paul Kusel zu holen, der noch im
Wasser liegt und dann am 20. März zu holen. Es klappte alles wie
am Schnürchen. Mit das Schlimmste war, Schwiegereltern davon zu
überzeugen, dass wir wegmachen wollen. Auch die in Mödlich
(Eltern von Elli Roost).
Hans Werneke schwankte hin und her. Er hatte seinen Kahn fertig
bei Mewes zu liegen, aber im letzten Moment versagte ihm doch der
Mut zu diesem Unternehmen. Er war inzwischen schon in die LPG
(Geschwister Scholl) eingetreten.
In den Plan waren noch mit eingeweiht Karl St., der am 23. März
am Fluchttag helfen sollte, aber es auch, Gott sei Dank, mit
Angst zu tun bekam.
Hans Bethmann wollte sich noch ein Schwein abholen, abends als
wir schon weg waren, wurde dabei ertappt, aber nach einem Tag
wieder freigelassen. Wie wir durch Briefe aus der Heimat
erfuhren.
An Geld in Bar nahmen wir ungefähr 4000 Mark mit. Betten, Wäsche,
Kleider, Anzüge, Radio im Gewicht von 250 Kilogramm.
Dieses Unternehmen nahm all unsere Nerven in Anspruch. Am
letzten Tag war jeder auf das Äußerste gespannt. Wir können Gott
im Himmel danken, dass alles gut gegangen ist, sonst wäre für
uns Sibirien reif gewesen. |
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Die Vorbereitungen
Im Sommer 1952. Elli Roost (Oma) mit Irma Roost (Mutter) und der
kleinen Margrit bei der Uroma Anna Maertens in Mödlich, die ihre
Urenkelin nicht wiedersehen wird. |
Porzellan und andere Sachen in der Scheune vergraben an Wernekes
Seite, durch Pfeile gekennzeichnet. Hermine weiß noch von
nichts.
Freitag, 13. März
Beim Fußboden auf dem Hausboden gearbeitet. Dort unter
eingenagelt: Bilder und Handwerkzeug.
Sonnabend, 14. März
Gras sauber machen am Giebel vor dem Fenster. Hermine geholfen.
Bücher habe ich zum größten Teil unter dem Fußboden der
ehemaligen Mädchenkammer in Dachpappe verstaut.
Sonntag, 15. März
Heute am Sonntagmorgen mit August Werneke nach Mellen gefahren
mit Einspänner. Getroffen mit Ziggel. In der Gastwirtschaft
Lewerenz einiges verkauft. Acht Rollen Bindegarn.
Anständig getankt. Nach Seetz mit Taxi gefahren zu Hugo Koch
wegen Pferde verkaufen. Kein Geschäft gemacht. Gegen Abend
wieder zu Hause.
Montag, 16. März
Den Boden aufgeräumt. Sachen auf die Seite gebracht.
Dienstag, 17. März
Schwiegervater hat seine Kartoffeln geholt.
12 Zentner.
Mittwoch, 18. März
Wagen hat Schwiegervater bekommen.
Was wir da gelassen haben:
4 Pferde, 12 Kühe, 19 Jungtiere, 23 Schweine, 90 Hühner, neun
Schafe, fünf Lämmer.
Donnerstag, 19. März
Nachmittags mit Hans Werneke bei uns eine Aussprache. Er sagt
zu, aber es ist kein Verlass drauf.
Freitag 20. März
Morgens um 2:00 Uhr aufgestanden. Hans Werneke geweckt. 3:00 Uhr
abgefahren nach Bäckern. Hans und ich alleine den Kahn
„Paul Küsig“ aufgeladen mit letzter Kraft. Dann in Wald gefahren
und Busch aufgeladen. Gut getarnt. Durch Lenzen mit Kahn und
Busch gefahren.
Papa nachmittags geackert. Vorbereitung getroffen. Abends Hans,
Anneliese und Hermine beim Packen.
Milchtransport mit Harras und dem Hunde-wagen, den
der Schwiegervater übernimmt. |
Sonnabend, 21. März
Morgens 4:00 Uhr Schwiegervater Färse von Helma geholt. Alles
gut geklappt. Papa zum Ackern. Nachmittags Schwiegervater mit
Kastenwagen gekommen. Sachen aufgeladen. Radio, Reitsattel,
Stacheldraht, zwei Sessel, Rauchtisch, Decken, zwei Räder,
Hundewagen, Wäsche, Auslegematratze. Nach Hans Bethmann mit
Kastenwagen Stacheldraht, zwanzig Hühner, Ketten usw. Anneliese
zwei Räder geholt.
Sonntag 22. März
Morgens August Werneke und ich mit zwei Anhänger 90 Zentner
Kunstdünger nach Schönfeld verschoben. Wir 1.150,00 Mark erhalten.
Nach Lenzen bei Werner Kählke unseren elektrischen Herd mit Töpfen
untergebracht. Nachmittags 15:00 Uhr zurück. Es kann heute Abend
nichts werden. Auf dem Polizeikommando ist Kontrolle aus Potsdam. Gott
sei Dank. Abends zum Tanz bei Fehrmann. Gute Stimmung. |
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Montag, 23. März
Die letzten Vorbereitungen zur Flucht. Heute Abend soll es was
werden. Reinhard Becker dichtet den Kahn ab. Wernekes montieren ihre
Treckerreifen ab. Die Zeit rückt näher. Um 18:00 Uhr sind die
Vorbereitungen zuende. 18:30 Uhr Befehl: Heute Abend geht es
los. Hermann und Fr. helfen, sonst lässt sich keiner sehen.
19:00 Uhr die Säcke mit dem notwendigsten sind verladen. Auch Hermann hilft tüchtig.
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Die Flucht
19:30 Uhr Abfahrt von Wernekes Hof. Hermann Schulz jagt einen
Pistolenschuss in die Luft, fährt dann nach Mödlich, kommt den
Elbdeich zurück, sagt uns Bescheid zum Anfahren. Mama kann
Tasche nicht finden. Ich mit Rad zurück in unsere Wohnung.
Anständig einen aus der Flasche Rum genommen. Aufs Rad und
unseren Wagen nach. Die waren bis in die Eichen gekommen.
Lichtsignal von Hermann Schulz. Anfahren zur Elbe. Beim Fahren
unser (?) verloren. Ich
wiedergeholt. Glatte Fahrt bis zum 10 m Kontrollstreifen.
Wernekes Pferde ziehen nicht. Unser Wagen zuerst nach dem Deich
aufgefahren. Alles klappt gut mit den letzten Kräften. Es ist
heller Mondschein! Mit unseren Pferden Wernekes Wagen
hochgefahren, abladen. Hermann kommt von Mödlich zurück. Auch
Wernekes Kahn zur Elbe.
Es ist uns leichter ums
Herz. Wir rudern mitten auf der Elbe. Elb-Chaussee bei Gorleben
Fuß gefasst auf westdeutschem Boden. Hermann und ich halten
Wache bei den Sachen. Die übrigen gehen ins Dorf.
Zur gleichen
Zeit, als wir am deutschen Ufer landen, kämpfen Reinhard Becker und
seine
Mutter in den Fluten der Elbe. Ihr Paddelboot war überladen. Das
Paddel brach und das Boot kenterte. Durch Reinhards Energie und
gutes Schwimmen gelang es den beiden flussabwärts treibend das
Ufer bei Pölitz zu erreichen. Durchnass kamen sie bei Köthkes
an. Wir wurden verhört von den Zollbeamten und der Polizei und
wurden von den Gastwirts Sanneke gut aufgenommen.
Dienstag, 24. März
Morgens bis 7.00 Uhr geschlafen. Polizei ist gekommen mit großem
Mannschaftswagen, will uns nach Uelzen fahren. Günther
Steinbiss in Gorleben von Restorf eingetroffen. Wir bei Hugo Köthke zu Besuch. Herrliches Mittagessen bei Sannekes. Herr und
Frau Rückriem. Alles ist neugierig über unsere Flucht. 12.00 Uhr
Abfahrt mit Polizei nach Uelzen zum Aufnahmelager. |
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Blick auf Wootz und den Fluchtweg über die Elbe. (Foto H. Roost, 1978) |
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Die Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide berichtet über die Rolle
des Vopos
Der Volkspolizeigefreite Hermann S. macht gegen Abend seinen
letzten Besuch auf der Dienststelle. Klappt die Flucht, ist
alles in Ordnung, klappt sie nicht, wandert er als Initiator ins
Zuchthaus. Das ist eine ganz klare Rechnung. Er studiert
genauestens das Wachbuch und stellt dabei fest, daß mehr
Möglichkeiten für ein Mißlingen als für ein Gelingen der Flucht
offen stehen. Sechs "linientreue" Vopos und zwei Russen werden
heute nacht ununterbrochen am ostzonalen Elbufer patrouillieren.
Aber heute nacht müssen sie weg, sonst ist es zu spät. Er
schwingt sich auf sein Fahrrad, jagt in etwa 800 m Entfernung
einen Schuß aus seiner Dienstpistole und wartet auf die
alarmierten Patrouillen, die von ihm eingewiesen werden. Weit
weg, möglichst weit weg von der Stelle, wo er mit neun
Erwachsenen und zwei Säuglingen in den nächsten Minuten die Elbe
überqueren wird. In rasender Fahrt geht es ans Ufer und wenig
später kämpfen fünf Familie auf dem hier etwa 500 m breiten
Strom um ihr Leben." (AZ
vom 28. März 1953) |
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Die Elbe-Jeetzel-Zeitung berichtet, was Beckers erzählen
(25.3.1953)
Dieses Boot war ebenfalls bis an die
Grenze des Möglichen beladen. Mitten auf der Elbe war man schon,
da brach das Paddel. Eifer und Schreck verleiteten den Sohn,
sich weit über Bord zu beugen. Das überlastete Boot kenterte.
Mutter und Sohn, Bettsäcke und Koffer fielen ins Wasser. Als der
Sohn wieder Luft schnappen konnte, gelang es ihm, die Mutter und
den Bettsack, der sie über Wasser hielt, ans Boot zu ziehen.
Schreien war auch in übelster Lage nicht möglich. Das eben
verlassene Ufer barg alle Gefahren. Das ganze Unglück und
der Kampf mit dem Wasser vollzogen sich in völliger Stille.
Schließlich hielten sich beide am Boot, dass kieloben trieb,
fest. Eine Stunde trieben sie im eiskalten Wasser zwei Kilometer
flussab. Aber dann hatten sie endlich westdeutschen Boden unter
den Füßen.
(EJZ vom25. März 1953) |
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Im Aufnahmelager Uelzen
(Herbert Roost berichtet weiter)
Mittwoch, 25. März
Die ersten Formalitäten werden gemacht. Zum Entlausen beim Arzt.
Die Presse ist da. Wir werden fotografiert.
Telegramm nach Hamburg.
Familie Rode aus Polz, Paul Kusel aus
Bäckern, Zörner aus Lenzen im Lager eingetroffen.
Donnerstag, 26. März
Wir müssen uns langsam ans Lagerleben gewöhnen. Heute müssen wir
zum Engländer zur Vernehmung. Die Engländer wissen genau
Bescheid in unserer Heimat.
Freitag, 27. März
Es gibt pro Tag 0,35 DM. Für unsere Margrit 0,20 DM.
Besuch von W. Werneke aus Braunschweig. Püppi ist seit dem 25.
in der Krippe. Irma weint, aber sie ist hier besser aufgehoben.
Sonnabend, 28. Mai
Papa und ich 12.15 abgefahren von Uelzen nach Hamburg. Bei
Blessmanns große Freude. Karl Gilberg angerufen. In 10 Minuten
war er da mit Motorrad. Ich mitgefahren. Musste viel erzählen.
Abends bei Blessmann Wiedersehen mit Marianne. Geburtstagsfeier
bei Blessmann.
Mittwoch, 29. März
Morgens von Blessmann nach HH-Wilhelmsburg zu Tante Frieda
gefahren. Große Überraschung. Auch hier gab es viel zu erzählen.
Nachmittags wieder nach HH gefahren zum Lenzener Treffen. Das
fiel aus!
Zum Kaffee bei Karli. Abends ins Theater. Bummel über die
Reeperbahn. Morgens 4.00 Uhr nach Hause.
Montag 30. März
Morgens mit Marianne, Papa und Tante Frieda am Hauptbahnhof
getroffen und zusammen nach Uelzen gefahren. Wiedersehen von Marianne und Mama
im Lager.
Dienstag 31. März
Zur Vorprüfung beim Aufnahmeausschuss!
Tante Frieda wieder abgefahren mit Irma.
Mittwoch, 1. April
Hauptverhandlung und als Flüchtling in der Bundesrepublik
anerkannt!
Donnerstag, 2. April
Umgezogen in Baracke 43, Dort sehr gut. Das Essen ist sehr gut.
Ich helfe bisschen mit in der Küche. |
Herbert Roost mit Tochter Margrit
Irma Roost mit Tochter Margrit |
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Freitag, 3. April
Mamas Geburtstag im Lager. Besuch aus Gedelitz. Frl. Bade und
Herr Seide. Mama und Papa mit Auto mitgefahren nach Kofahls in
Belitz. Dort zu Besuch.
Sonnabend, 4. April
Hermann Geister und Frau zu Besuch aus Hamburg. Es wurde viel
erzählt.
Ostersonntag, 5. April
Morgens Bohnenkaffee mit pro Mann ein Viertel Butterkuchen.
Kakao und pro Mann 4 Ostereier. Nachmittags Magdalena und
Gerhard Lambeck zu Besuch. Marianne und ich alleine.
Ostermontag, 6. April
Tante Agnes, Irma und Tante Frieda aus Hamburg wieder
eingetroffen. Die Freude ist groß. Nachmittags Karl und Gretel
zu Besuch.
Dienstag, 7. April
Mama und Papa aus Belitz eingetroffen. Karl und Gretel nochmals
da. Man spricht vom Transport. |
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Odyssee durch weitere Lager
Mittwoch 8. April
Sachen packen. Wir sind für Baden-Württemberg vorgesehen.
Hoppe und Frl. Luxi zu Besuch.
Donnerstag, 9. April
Fahrt nach Stuttgart wird vorbereitet. Abfahrt von Uelzen 22.15
Uhr über Hannover, Kassel, Gießen, Frankfurt, Heidelberg,
Bruchsal.
Freitag, 10 April
Die ganze Nacht gefahren mit D-Zug. Mittags Ankunft in
Stuttgart-Zuffenhausen. Einweisung ins Quartier. Massiver
Wohnblock. Mit Wernekes, Beckmanns und Königs zusammen. ......
Im Weiteren werden die Aufzeichnungen hier etwas gekürzt
wiedergegeben.
Montag, 13. April
Von Stammheim mit Autobus auf der Autobahn durch das herrliche
Württemberger Land. Mittags Ankunft in Weinsberg an der
Weibertreu im Lager.
Dienstag, 14. April
Baracke 37, Zimmer 12.
Unsere Stube mit Wernekes, Fam. Schulz, Königs und Beckers
zusammen. Schöne helle Stube.
Zum Arzt und zum Arbeitsamt.
Mittwoch, 15. April
Zum ersten Mal Stempeln gegangen in meinem Leben. Am Nachmittag
Burg Weibertreu bestiegen. ...........
22. Wernekes kommen nach Stammheim.
Herr und Frau König nach Karlsruhe.
Donnerstag, 23. April
Unsere Püppi hat die ersten Schritte gemacht.
Freitag, 24. April
Postkarte von der Bahn: Unser Gepäck ist da von Uelzen.
Sonnabend, 2. Mai
Um 8 Uhr Weinsberg verlassen. Mit Omnibus über Heilbronn,
Bretten nach Karlsruhe in dortiges Durchgangslager. Block 3B,
Zimmer 20.
Montag, 4. April
Registrierung und Arbeitsamt.
Dienstag, 5. Mai
Papa und ich in den Stadtpark. Als wir zurückkamen lag schon
Order vor: Es geht Morgen nach Tauberbischofsheim.
Mittwoch, 6. Mai
8 Uhr Abfahrt. In Tauberbischofsheim zu Mittag gespeist.
Nachmittags mit Omnibus durch den ganzen Kreis gefahren und die
ganzen Flüchtlinge auf die Dörfer verteilt.
19 Uhr in Vilchband im Gasthaus aufgenommen, weil Quartiere noch
nicht fertig.
Wir werden bei Bauer Trunk eingewiesen, Mama und Papa bei
Schnupp.
Freitag, 8. Mai
Beim Wohlfahrtsamt in Tauberbischofsheim 300,- DM erhalten für
Haushaltsgegenstände. |
Im Notizbuch gibt es auch diese Abschrift eines kleinen
Briefes von Irma Roost nach Wootz:
Sind gut auf der anderen Seite gelandet. Sind gesund und munter.
Ihr dürft uns nicht böse sein, dass wir Euch kein Auf-Wiedersehen gesagt haben. Befinden uns jetzt im Lager
Uelzen. Oma geht jetzt immer mit Margrit spazieren.
Zwischen den Zeilen und aus einer ganz kleinen Bemerkung (Irma
weint) geht doch großes Heimweh und Trauer um das
verlorene Zuhause hervor.
Elli und Hugo Roost in Vilchband
Familie Trunk in Vilchband. Hier werden Herbert und Irma
Roost mit Kind herzlich aufgenommen. Aber es zieht sie doch
wieder nach Norden.
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Am 9. Juni letzter Eintrag in Vilchband. „Pass geholt“.
Während der monatelangen Versuche, mit amtlicher Hilfe im Süden
ein neues Zuhause zu finden, hält Familie Roost Kontakt zu
Verwandten im Wendland. Im Juni ist dann Familie Kofahl
in Belitz bereit, die fünf Roosts vorübergehend aufzunehmen, bis
sie eine angemessene Unterkunft im Wendland finden.
Zwei weitere kurze Einträge im Notizbuch lassen den erfolgten
Umzug erkennen:
27. Juli
Nach Hitzacker gefahren zur Arbeit. Stunde 1,11 DM. Stube bei
Tante Emmi, 8 DM im Monat.
28. Juli
Angefangen bei Firma L. F. Müller in Hitzacker.
Die Familien Roost und Gilberg bei Willi und Anna Kofahl in Belitz. |
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Noch im selben Jahr findet sich eine
Wohnung in Naulitz. Wie wir auf der Fortsetzung in
Naulitz sehen, werden die
Roosts ganz zu Naulitzern. Bald gibt es weiteren Nachwuchs und auch
der Wunsch nach eigenem Haus und Hof mit kleiner Landwirtschaft wird
verwirklicht.
Kleine Ergänzung:
Eine weitere Flucht über die Elbe gelang 1963 mehreren Familien bei
Jasebeck
in einem ganz ungewöhnlichen
Fluchtfahrzeug.
In
der Tour wenden wir uns wieder dem anderen Thema der 50er Jahre zu:
Wasser.
Bei Hochwasserkatastrophen kann die
Bewachung der Grenze ausgedünnt werden und die Männer des
Bundesgrenzschutz werden zum Bau von Notdeichen eingesetzt. Z. B.
1954:
Die Jeetzelregulierung und das
Sommerhochwasser von 1954 |
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Die Grenze in den 60er Jahren (Seite
erstellt im Januar 2010) |
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